Da in Wien nun wieder das Phantom durch die Oper geistert, habe ich seinen entfernten Verwandten in mein Wohnzimmer gelassen. „Das Phantom im Paradies“ (OT: „Phantom of the Paradise“) von 1974 ist eine wilde Mischung aus Rockmusical, Mediensatire und Horrorfilm.
Der unbekannte Komponist Winslow Leach will dem Plattenlabel „Death Records“ seine Faust-Kantate verkaufen. Dessen Chef, der mysteriöse Swan, ist begeistert von der Komposition und will damit seinen neuen Rockpalast „Paradise“ eröffnen. Winslow überlässt ihm naiverweise die Partitur, danach hört er nichts mehr von dem Musikmogul. Als er sich persönlich nach dem Stand der Dinge erkundigen will, platzt er in ein Casting für eben sein Stück. Winslow will Swan zur Rede stellen, wird entdeckt, zusammengeschlagen, von korrupten Polizisten des Drogenhandels bezichtigt und ins Gefängnis gesteckt. Dort hört er im Radio, dass Swan den „Faust“ als sein eigenes Werk herausbringen will und bricht aus. Er verschafft sich nachts Zugang zur Produktionsstätte der Plattenfirma, um die LP-Produktion zu sabotieren. Ein Nachwächter überrascht ihn, zerfetzt mit einem Schuss seine Stimmbänder und Winslow gerät mit dem Kopf in die Schallplattenpresse. Entstellt wird Winslow mit schwarzem Lederanzug und Vogelhelm zum „Phantom“ und versteckt sich im „Paradise“. Doch Swan erkennt ihn und sie einigen sich auf einen mit Blut besiegelten Handel: Winslow bekommt ein Gerät, mit dem er wieder – wenn auch gespenstisch verzerrt – sprechen kann. Außerdem soll er die Kantate fertigstellen, die dann unter seinem Namen veröffentlicht würde, und die Hauptrolle soll mit seiner Wunschkandidatin, der jungen Sängerin Phoenix, besetzt werden. Doch Swan denkt nicht daran, sich an den Vertrag zu halten. Als die Partitur beendet ist, lässt er Winslow im Keller einmauern und besetzt die Rolle mit dem populären Rockstar Beef. Doch Winslow kann sich befreien und findet heraus, dass auch Swan einen Vertrag geschlossen hat – mit dem Teufel persönlich …
Die Autoren Brian De Palma und Louisa Rose greifen in ihrem Drehbuch nicht nur auf Motive aus dem Schauerroman von Gaston Leroux zurück, auf dem auch andere „Phantom“-Verfilmungen und -Musicals basieren, sondern erweitern die Geschichte um Elemente aus der Faust-Tragödie und Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Sie schildern schrill überzogen die Abhängigkeit der Künstler von Plattenfirmen und wie die Medienbosse ihre Macht missbrauchen. Aber auch eitle Stars werden durch den Kakao gezogen. Die hysterischen Fans, die selbst dann nicht nachlassen, wenn ihr Idol tot an ihnen vorbei getragen wird, bekommen ebenfalls ihr Fett weg. Der Humor ist sehr bitter, also nichts zum laut lachen und sich auf die Schenkel schlagen. Die deutsche Synchronisation will in punkto Wortwitz noch eine Schippe drauflegen und streut zusätzlich plumpe Scherze ein, die im Original nicht vorkommen. Das hat mich so genervt, dass ich auf den Originalton umgeschaltet habe.
Brian De Palma, der auch Regie führte, hatte vorher einige gesellschaftskritische Komödien inszeniert sowie den Horrorfilm „Schwestern des Bösen“ („Sisters“, 1973). Nach dem „Phantom“ blieb er einige Zeit diesem Genre treu. Stilprägend war 1976 „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“, die Stephen-King-Verfilmung, die ihren Autor berühmt machte. De Palma ist ein sehr optischer Regisseur. Dialoge sind nicht immer seine Stärke, aber er kann Geschichten großartig in Bildern erzählen. Passenderweise sind Überwachung und Voyeurismus bei ihm wiederkehrende Themen. Auch hier kommen sie vor: Winslow beobachtet nicht nur die Vorkommnisse im „Paradise“, sondern auch Swan und Phoenix, die Swan zu Winslows Missvergnügen heiraten will. Der Plattenboss hat sowohl sein Haus als auch das „Paradise“ mit Überwachungskameras ausrüsten lassen, um jederzeit Kontrolle über alles zu haben.
Auf der Bildebene wird zwar dick aufgetragen, aber die Kameraarbeit ist vom Feinsten. Ob opernhaft große Tableaus oder fiebrig zitternde subjektive Handkamera – Kameramann Larry Pizer hat hier ganze Arbeit geleistet. Ein Markenzeichen von De Palma ist die Splitscreen-Technik. Er teilt die Leinwand und zeigt zwei verschiedene Blickwinkel der gleichen Situation. Das sieht gut aus und steigert die Spannung.
Musikalisch bedient der Film den Glamrock-Geschmack der frühen 1970er Jahre. Die Songs stammen von Paul Williams, der als Komponist u.a. für die Carpenters bekannt wurde. So eine Poser-Mucke war eigentlich nicht sein Stil. Aber er parodiert die Gattung ebenso gekonnt wie der Beef-Darsteller Gerrit Graham die übertriebene Performance der Stars dieses Genres. Für Phoenix schrieb Williams die gefühlvollen Nummern „Special To Me“ und „Old Souls“. Die Musik zum „Phantom“ brachte ihm zusammen mit seinem Kollegen George Aliceson Tipton eine Oscar-Nominierung ein.
Williams, der vorher schon gelegentlich als Schauspieler aktiv war, spielt auch die Rolle des Swan. Eine Entscheidung, die überrascht, denn auf den ersten Blick ist er kein Bilderbuch-Bösewicht. Williams ist bloß 1,57 m groß und daraus macht der Film keinen Hehl. Sein Babyface mit dem jungenhaften Lächeln hat einerseits Charme, andererseits kann er auch eine bedrohliche Kälte und Arroganz ausstrahlen.
Jessica Harper als Sängerin Phoenix spielte hier ihre erste Filmrolle. Leider zeichnet das Drehbuch sie ziemlich konturlos und flach, dafür singt Harper mit ihrem warmen, samtigem Timbre sehr gut.
Die Rolle des Winslow Leach wurde William Finley, einem Studienfreund De Palmas, auf den Leib geschrieben. Mit wirren Haaren, etwas vorstehenden Augen und exaltierter Spielweise ist er genau der richtige Typ für den weltfremden Komponisten. Finleys Tendenz zum Overacting hilft ihm beim Wahnsinn des Phantoms, das trotzdem ein Hauch von Tragik umweht.
Obwohl mit großem Aufwand gedreht, hat der Film einen gewollt trashigen B-Film-Charme. Es ist von allem immer etwas zu viel – etwas zu viel Ausstattung, etwas zu viel beeindruckender Kamera-Schnickschnack, etwas zu viel Gewalt – und trotzdem ist es unterm Strich stimmig. Allerdings nur, wenn man solche Filme generell mag.
„Das Phantom im Paradies“ war einer der größten Flops des Kinojahrs 1974 – außer im kanadischen Winnipeg, dem einzigen Ort weltweit, wo er ein Kassenknüller war. Später konnte der Streifen eine Kultgemeinde um sich scharen.
Mir hat das Wiedersehen mit dem „Phantom“ ziemlich Spaß gemacht. Trotzdem hatte ich ein bisschen das Gefühl, dass Brian De Palma von Anfang an vorhatte, einen Kultfilm zu drehen und das vielleicht etwas verbissen umgesetzt hat.
Nochmal zurück zum bekannteren Musical-„Phantom“: Angeblich zeigte der Regisseur der „Rocky Horror Picture Show“, Jim Sharman, Andrew Lloyd Webber „Das Phantom im Paradies“, um mit ihm zusammen daraus ein Bühnenmusical zu machen. Aus dem Projekt wurde bekanntlich nichts – aber das sei der Anstoß für Lloyd Webber gewesen, „Das Phantom der Oper“ zu schreiben. Einen verlässlichen Quellennachweis habe ich dafür nicht gefunden, aber auch wenn es nur eine Legende ist, finde ich es einen schönen abschließenden Gedanken für meinen Phantom-Fernsehsessel-Abend.
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