In London und den USA gehört die Auseinandersetzung mit den performativen Künsten, sei es Theater, Musik, Tanz oder die Zusammenführung aller drei Sparten im Musicalgenre, zur frühkindlichen Erziehung. Besonders Musicals stehen auf dem Plan fest jeder Schule und manch ein Zuschauer staunt, beispielsweise beim Besuch des Musicals „Matilda“ am Londoner West End, über die darstellerischen Qualitäten der Jüngsten. Von diesem Niveau scheint Deutschland weit entfernt. Einige Theater haben sich aber der Aufgabe verschrieben, die Jugend an das Genre und die Bühne heranzuführen. Ein gelungenes Beispiel für Kinder- und Jugendarbeit im Musicalbereich ist das Ensemble des T.3 am Theater Lüneburg, das in dieser Spielzeit unter anderem den Musical-Klassiker „Annie“ aufführt.
Im T.3, einer der drei Spielstätten des Theaters Lüneburg, wird junges Theater praktiziert. Dies bedeutet nicht zwingend, dass die einstudierten Stücke nur an ein junges Publikum gerichtet sind, im Gegenteil – auch viele Erwachsene lassen sich von dem Programm anlocken. Neben Produktionen, die von professionellen Schauspielern präsentiert werden, und verschiedenen Jugendclubs gibt es ein umfangreiches Angebot mit der Ballettkompanie des Theaters sowie regelmäßig stattfindende Puppentheater. Einen besonderen Schwerpunkt im T.3 bildet die Sparte „Junges Musical“. Hier besteht das Ensemble zum Großteil aus Kindern und Jugendlichen und wird, wo rollenbedingt notwendig, von erwachsenen Profi-Darstellern ergänzt. Einer der Regisseure des T.3, Friedrich von Mansberg, übernimmt ab kommender Spielzeit die Gesamtintendanz des Theaters Lüneburg.
„Es ist mein Ziel, das Genre Musical in Lüneburg noch deutlich präsenter zu machen. Natürlich wird es Oper, Schauspiel und Tanztheater auch weiterhin geben, aber mit Musicals können wir ein Alleinstellungsmerkmal kreieren, das weit über die Region hinaus sichtbar ist. Ich möchte in der professionellen Sparte weitere Musicals auf unsere Bühne bringen und zeitgleich auch unseren Nachwuchs im T.3 vermehrt an das Genre heranführen.“, so von Mansberg. „Die mitwirkenden Kinder und Jugendlichen finden wir sowohl in den Chören als auch im Einzelunterricht dort an der Musikschule. Zusätzlich machen wir von Zeit zu Zeit offene Castings. Wichtig ist uns dabei, dass dieses Angebot offen für alle ist. Wir erwarten keine kleinen ‚fertigen Musicalstars‘, sondern Kinder und Jugendliche, die Spaß daran haben, sich in diesem Genre zu entdecken. Die meisten bleiben uns dann über Jahre treu und wachsen stetig mit ihren Aufgaben.“
Schon jetzt kooperiert das Theater im Musicalbereich sowohl mit der Musikschule in Lüneburg, die direkt neben dem Theater liegt, als auch mit der Leuphana Universität Lüneburg. Aktuell gibt es drei Musicalgruppen, die sich nach dem Alter der Nachwuchsdarsteller grob in „Kinder“ mit 8 bis 13 Jahren, „Jugendliche“ von 13 bis 18 Jahren und „junge Erwachsene“ bis in die frühen 20er ordnen lassen. Die Jüngsten sind zur Zeit in „Annie“ zu sehen. Über das nunmehr 13-jährige Bestehen der jungen Theatersparte freut sich von Mansberg sehr. „Oftmals ist es so, dass die Kids schon als Grundschüler mit dem Theater anfangen und dann, wenn sie ihre ersten Erfahrungen auf der Bühne gesammelt haben, in die Gruppe für die Jugendlichen und schließlich für junge Erwachsene weiter gehen. So können sie in einem professionellen Umfeld Erfahrungen sammeln und sich spielerisch weiterbilden. Dabei unterstützt sie ein professionelles Team, das in der Theaterpraxis arbeitet: Darunter sind Choreographinnen und Regisseure und ein Vocal Coach.“
Zum Teil werden die Produktionen von Mitgliedern des theatereigenen Profi-Orchesters begleitet, aber auch in diesem Feld kommen Nachwuchsmusiker zum Einsatz. Für die Erwachsenenrollen werden Schauspiel- und Gesangsprofis des Theaterensembles engagiert. „Und natürlich ist unser Projekt theaterpädagogisch eingebettet und wird von den umliegenden Schulen wohlwollend unterstützt.“, so von Mansberg weiter. Aktuell seien im „Graf von Monte Christo“ zwei junge Darsteller zu erleben, die über viele Jahre Teil des „Jungen Musicals“ im T.3 waren. Beide streben nun eine Schauspiel- und Musicalausbildung an, für die sie sich durch ihr jahrelanges Engagement am Theater schon wichtiges Handwerkzeug angeeignet haben – beste Voraussetzungen also.
Schon bei den Endproben zu „Annie“ ist offenkundig, dass das junge Ensemble Beeindruckendes leistet. „Atmet durch, vergesst, dass ihr Kinder von heute seid, und los geht’s!“ leitet von Mansberg die Durchlaufprobe auf der Bühne des T.3 ein, schnippt, und der Blick der Kinder und Jugendlichen wird fokussiert. Sie fallen kaum aus der Rolle und beweisen Haltung und Bühnenpräsenz. Auf die kurzen Hinweise des Regisseurs achten sie und setzen diese unverzüglich um. Dem sechsköpfigen Orchester unter der Leitung von Kanako Sekiguchi folgen die Kleinen souverän und lassen sich auch von wechselnden Einsätzen nicht aus der Routine bringen.
Die beteiligten Profi-Darsteller, zum Beispiel Steffen Neutze, der Mr. Warbucks, den Ziehvater von Annie spielt und stimmgewaltig singt, agieren mühelos mit dem Kinderensemble zusammen und bilden eine Einheit, die beinahe auf Augenhöhe abläuft. Die Kids, die für sieben Wochen nahezu täglich nach der Schule und auch am Wochenende für ihr Musical proben, sind sogar schon mindestens so routiniert bei der Sache wie die Profis. Da sitzt schon fast jeder Tanzschritt, jeder Blick und jede Textpassage des 23 Kinder und Jugendliche zählenden Ensembles bei „Annie“. Hervorragend klingen die Chorparts von „It’s a hard-knock life“ und lassen wohlige Flashbacks zu den Theaterkids des West Ends bei „School of Rock“ oder „Matilda“ entstehen. Was hier geboten wird, ist hoch professionell. Juliana und Janosh Kratz, die vom Alter her den älteren T.3-Gruppen angehören, verkörpern überzeugend schmierig das Hannigan-Geschwisterpaar und tanzen zusammen mit Pia Naegeli als hinterlistige Lily scheinbar mühelos professionelle Choreographien. Die beiden Hauptfiguren Annie und Liz sind doppelt besetzt und agieren bezaubernd. Bei der Probe spielen Leah Zachmann, die berührend mit Neutze harmoniert, und Luisa Rosenbaum, die wiederum in der Opernsängerin Paula Rohde als liebenswerte Adoptivmutter Grace einen harmonischen Gegenpart bei den Erwachsenen findet.
Das hat sich im Umkreis schon herumgesprochen: Bei der Gründung war die Prämisse des T.3, 100 Vorstellungen mit jeweils 100 Besuchern pro Spielzeit zu generieren, also 10.000 Besucher zu den Projekten des Jungen Theaters zu ziehen. Diesen Meilenstein hat das Ensemble mit inzwischen jährlich 17.000 Zuschauern schon brechen können.
Die Sparte T.3 ist ein Musterbeispiel für umfassende und zielgruppenorientierte kulturelle Bildung, die zukunftsträchtig und aussichtsreich die Jüngsten professionell an das Genre Musical heranführt.
Galerie | |||||||||
GALERIE |
---|