Malcolm Quinnten Henry (Seaweed J. Stubbs), Daniela Tweesmann (Tracy Turnblad), Monica Lewis-Schmidt (Motormouth Maybelle), Clarissa Anyamele (Little Inez), Mirjam Wershofen (Penny Pingleton) © Freilichtspiele Schwäbisch Hall, Ufuk Arslan
Malcolm Quinnten Henry (Seaweed J. Stubbs), Daniela Tweesmann (Tracy Turnblad), Monica Lewis-Schmidt (Motormouth Maybelle), Clarissa Anyamele (Little Inez), Mirjam Wershofen (Penny Pingleton) © Freilichtspiele Schwäbisch Hall, Ufuk Arslan

Hairspray (2024)
Freilichtspiele, Schwäbisch Hall

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Das Kultmusical „Hairspray“ bringt Schwäbisch Hall in dieser Freilichtsaison auf Hochtouren. Das Stück kommt in dieser Inszenierung mit erfrischendem Humor und den richtigen, zeitgemäßen Nuancen im Hier und Jetzt an. Dabei agiert die gesamte Besetzung  zu jedem Zeitpunkt perfekt, der Ton der Band strömt satt über den Haller Marktplatz und die dynamischen Choreographien lassen beinahe vergessen, dass das ganze Musical auf der mit Sicherheit nicht einfach zu bespielenden, riesigen Kirchentreppe gegeben wird. Schwäbisch Hall ist mit „Hairspray“ ein knallbunter Open-Air-Tipp für diesen Sommer!

Unter Christopher Tölle entsteht eine Inszenierung, die es in sich hat. Mit entsprechend Dampf im Getriebe wird das Musical dynamisch durcherzählt, sodass weder dramaturgische noch inszenatorische Längen entstehen. Auf der bis zu 48 Meter breiten Treppe, die – mit Blickfokus auf die mittigen 15-20 von insgesamt 54 Stufen – an mehreren Stellen bespielt wird, entstehen schon allein durch die Ausmaße und die unterschiedlichen Höhen nahezu dauerhaft verschiedene Mikroszenen und Interaktionsfelder für die DarstellerInnen. Das Publikum kann so auch die gerade nicht im Fokus stehenden Figuren im Blick behalten und viele lustige Nebenszenen entdecken.

Trotz des Tempos gelingt es Tölle, ruhige Akzente in den großen Soli des Musicals zu generieren. Obwohl natürlich der Ulk, Trash und Camp im Fokus von „Hairspray“ stehen, wird den zugrundeliegenden Themen wie Rassismus, Xenophobie und der Diskriminierung von Minderheiten auch einstweilen ein ernsthafter Raum gegeben. Durch das Nutzen von Protesttafeln mit aktuellen Slogans wie „Nie wieder ist jetzt!“ und bekannten Zitaten wie RuPauls „We’re all born naked and the rest is drag“ sowie einer eindringlich inszenierten, von Polizeigewalt niedergeschlagenen Demonstration gibt Tölle dem eigentlich oftmals angestaubten „Hairspray“ in Schwäbisch Hall einen beherzten Schubs Richtung Gegenwart, was dem Stück gut zu Gesicht steht. Durch die straffe und intelligente Inszenierung vergeht das ohne Pause gespielte Musical wie im Flug.

Hier hilft auch das Kostümressort, angeführt von Heike Seidler, zum Erfolg. Die schrillen und bunten Kleidungsstücke und schwindelerregenden Turmfrisuren dürfen als Markenzeichen von „Hairspray“ natürlich nicht fehlen und werden durch Seidler perfekt umgesetzt. Im Gegensatz zu vielen anderen Versionen, bei denen die weißen von den schwarzen Bewohnern Baltimores schon durch ihre Kleidung optisch abgegrenzt werden, trägt hier jedes Ensemblemitglied eine eigens zugewiesene Farbe aus dem Farbspektrum des bedeutungsschwangeren Regenbogens. Die Grundaussage des Stücks, dass jeder Mensch von Natur aus gleich ist, wird durch diese Kostümwahl direkt deutlich. Seidlers Bühnenbild besteht zum Großteil aus unterschiedlich großen Bällen in poppigen Farbtönen, die im Dunkeln beleuchtet sind und die Kirchentreppe flankieren, so  dass es sonst kein opulent-aufwändiges Bühnenbild braucht, um dieses Stück optisch stimmig wirken zu lassen, beeindruckt im positiven Sinn.

Eine große Treppe mit darstellenden Künsten bespielt zu sehen, beeindruckt jedes Jahr aufs Neue. Dabei kommt das Gefühl auf, dass sich das Kreativteam in Schwäbisch Hall, das nun schon seit einigen Jahren auch jeweils ein großes Musical auf den Plan setzt, immer mutiger wird, wenn es um die choreographischen Möglichkeiten auf dieser besonderen Bühne geht. Waren die Choreographien bei „Sister Act“ schon für diese Spielfläche durchaus ansehnlich, bleibt bei „Hairspray“ nur, den Hut vor dieser Leistung zu ziehen. Was Nigel Watson an tänzerischen Abläufen und stimmigen Bildern auf dieser unebenen und nicht ganz ungefährlichen Bühne kreiert, lässt das Stück so mühelos erscheinen, dass das Publikum zuweilen vergisst, auf welcher potenziell halsbrecherischen Spielfläche hier agiert wird. Das gelingt ihm durch zahlreiche schöne Gruppenchoreographien und optisch ansprechende Cluster-Szenen. Aber auch traditionelle Showtanzelemente lässt er das Ensemble auf den schmalen Stufen vollführen – großes Kino!

Der Sound ist – umso erfreulicher für eine Open-Air-Produktion mitten in einer Stadt, wo es nicht selten auch entsprechende Lautstärkereglementierungen gibt – erstaunlich voll, klar, störungsfrei und gut austariert. Sowohl das Ensemble und die Solisten als auch die mit sattem Klang spielende 12-köpfige Band unter Heiko Lippmanns Leitung werden einwandfrei über den weiten Markplatz übertragen. Die musikalische Untermalung ist abwechselnd gefühl- und schwungvoll und fängt das 60er-Feeling optimal ein.

Auch die Ensemblemitglieder sprühen vor Energie und verkörpern ihre Rollen mit jeder Faser. Die komplette Teenagertruppe von Brad (Nigel Watson), Sketch (Johannes Summer), IQ (Achim Himmelbauer) bis zu Brenda (Valentina Del Regno), Shelley (Kate Moss) und Gilbert (Felipe Ramos) kann zahlreiche Rampenlicht-Momente abgreifen und strahlt durch individuelle Färbungen ihrer Charaktere. In ihren Doppelrollen können Thomas Schreier als exzentrischer Mr. Pinky und trockener Firmenchef Spritzer sowie Barbara Raunegger als garstige Sportlehrerin und sadistisch-christliche Prudy Pingleton viele Lacher abräumen. Die drei Dynamites Little Inez (Clarissa Anyamele), Pearl (Gloria Enchill) und Peaches (Coreena Brown) begeistern mit souligem Timbre, großem Stimmumfang und einnehmender Bühnenpräsenz.

Marco Toth gibt einen charmanten und energetischen TV-Host Corny Collins mit viel Swing sowie fantastischer Stimmführung in seinen Songs wie „Nicest Kids in Town“. Mirjam Wershofen legt ihre Penny mit viel Teenager-Schrulligkeit und explosiven Energieschüben aus, wodurch es ihr gelingt, dass das Publikum die Figur trotz – oder gerade wegen – ihrer Marotten sofort ins Herz schließt. Sowohl Lucca Kleimann als Link Larkin als auch Malcolm Quinnten Henry als Seaweed können darstellerisch überzeugen. Gekonnt mit ihrem Sexappeal spielend und es zu ihrem komödiantischen Vorteil nutzend, schaffen sie zahlreiche ulkige Momente und bieten zu jedem Zeitpunkt die optimalen Bühnenpartner für die von ihren Figuren angehimmelten Damen. Dabei ist die wechselnde Dynamik zwischen den beiden Charakteren im Stück subtil und doch eindrucksvoll ausgespielt: Während Kleimanns Link am Anfang bei „Du und ich“ noch der aufstrebende und vor Selbstbewusstsein strotzende Star ist, wird sein Ego mit dem Auftreten von Henrys Seaweed mit seinem natürlichen Charisma in „So sieht das aus“ immer kleiner. Claudius Freyer als Ehemann Wilbur versprüht gute Laune und spielt fast anrührend schön zusammen im Lied „Du bist zeitlos für mich“ mit Andrea Matthias Pagani, der in die Drag-Rolle der Edna schlüpft. Pagani, dem Comedy im Blut zu liegen scheint, füllt die ikonische Rolle mit viel köstlichem, als Understatement dargebrachtem Humor und singt seine Parts beeindruckend. Die Telefonszenen, in denen Edna die Hörerstrippe aus der Hausfrauenschürze und später aus der Designer-Handtasche zieht, sind jedes Mal aufs Neue wieder wahres Comedy-Gold.

Die Leading-Ladies des Stücks sind allesamt überragend: Monica Lewis-Schmidt als Motormouth Maybelle gibt dem Musical nicht nur stimmliche Tiefe. Ihre Matriarchin legt sie besonnen und herzenswarm an. Mit ihrer fantastischen Gospelstimme und emotionalem Ausdruck interpretiert sie „Ich weiß, wo ich war“, das durch Lewis-Schmidt zum gesanglichen Highlight des Abends und zu einem wahren Gänsehaut-Moment wird. In „Breit, blond und blendend“ zeigt sie im Duett mit Paganis Edna außerdem auch viel komödiantisches Geschick.

Katia Bischoff als Amber und Maaike Schuurmans als Velma von Tussle sind ein infernales Duo. Das antagonistische Mutter-Tochter-Gespann mobbt, proletet herum und lässt die politisch fragwürdigsten Gehirnfürze los, die man auf Musicalbühnen heutzutage noch zu hören bekommt – und das Ganze hoch unterhaltsam, parodistisch-überzeichnet und herrlich skurill. Wie Bischoff und Schuurmans sich gegenseitig die Bälle zuwerfen, ist genial. Ihre vor Wut kochenden und um Contenance ringenden Charaktere am Rande des Geschehens zu beobachten, ist ein Angriff auf die Lachmuskeln. Fantastisch ätzend und selbstüberschätzend interpretiert Schuurmanns im süffisanten „Miss Baltimore Crabs“, das sie in der Reprise durch einen stimmlichen Ausraster, bei dem ihre Velma komplett die Fassung verliert, noch toppt. Bischoff, die in letzter Zeit bei „Les Misérables“ oder „Lady Bess““ vor allem in dramatischen Rollen unterwegs ist, zeigt in dieser Rolle eine beeindruckende weitere Nuance ihres Könnens und beweist, warum sie zurecht auf dem aufsteigenden Ast des Musical-Business sitzt. Bei „Sie ist eklig“ kulminiert Bischoffs Amber, die eine Achterbahnfahrt von wechselnden Stimmungen zwischen ungebändigter Wut und ‚Pick-Me-Girl‘-Attitüden aufs Parkett (oder besser gesagt: auf die Treppe) legt.

Daniela Tweesmann als Tracy Turnblad folgt das Publikum gerne durch die schräge Story, so grundsympathisch legt sie ihre ambivalente Protagonistin an. Dabei nimmt sich Tweesmanns Tracy mitunter selbst nicht so ganz ernst, was der Rolle hervorragend zu Gesicht steht und der in anderen Inszenierung oftmals etwas größenwahnsinnigen Außenseiterin trotz ihrer ambitionierten Träume stets eine liebe Bodenständigkeit im Wesen angedeihen lässt. Diese Tracy ist aber auch ein wahres Energiebündel und voller Leidenschaft. „Glocken klingen hell!“ lässt die Zuschauer an Tracys schwärmender Seite teilhaben, in der durch Tweesmanns authentisches Spiel jeder auch ein Stück von sich selbst wiederfinden kann. Die großen Shownummern von „Good Morning Baltimore“ über „Willkommen in den Sixties“ bis zum Finale „Niemand stoppt den Beat“ führt Tweesmann zudem auch stimmlich souverän an und sorgt in den Gruppensongs mit ihren Bühnenpartnern für hochkarätige Gesangsmomente mit viel Comedy: Mit Lucca Kleimann zusammen zu „Ich und du“ versucht sie sich, mit einer Feile aus dem Gefängnis freizurubbeln, im Quartett mit Kleimann, Wershofen und Henry zu „Ohne Dich“ sind die zwei Pärchen sexuell etwas zu angespannt und im fulminant-lustigen „Mama, ich bin nicht mehr klein“ zusammen mit Pagani, Wershofen, Raunegger, Bischoff und Schuurmans bietet sie mit den anderen Töchtern ihren einengenden Müttern ordentlich Paroli.

„Hairspray“ in Schwäbisch Hall ist ein rundum stimmiges Gesamtpaket, das sich vor anderen Open-Air-Großproduktionen in keiner Weise zu verstecken braucht. Ganz im Gegenteil! Ein Besuch bei dieser tollen Inszenierung wird hiermit wärmstens empfohlen!

 
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KREATIVTEAM
Musikalische LeitungHeiko Lippmann
InszenierungChristopher Tölle
AusstattungHeike Seidler
ChoreografieNigel Watson
Christopher Tölle
 
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CAST (AKTUELL)
Tracy TurnbladDaniela Tweesmann
Edna TurnbladAndrea Matthias Pagani
Wilbur TurnbladClaudius Freyer
Penny PingletonMirjam Wershofen
Corny CollinsMarco Toth
Link LarkinLucca Kleimann
Velma von TussleMaaike Schuurmans
Amber von TussleKatia Bischoff
Motormouth MaybelleMonica Lewis-Schmidt
Seaweed J. StubbsMalcolm Quinnten Henry
Little Inez / DynamiteClarissa Anyamele
Peaches / DynamiteCoreena Brown
Peal / DynamiteGloria Enchill
Prudy PingletonBarbara Raunegger
Harriman F. Spritzer / Mr. PinkyThomas Schreier
BradNigel Watson
SketchJohannes Summer
IQAchim Himmelbauer
BrendaValentina del Regno
ShelleyKate Moss
GilbertFelipe Ramos
OrchesterHeiko Lippmann
Gela Megrelidze
Felicitas Stoffel
Johannes Krampen
Thomas Krause
Dirk Rumig
Martin Tashev/Todor Gadjalov
Tobias Scheibeck
Johannes Weik
Michael Deak
Miguel Llobell Réiné
Marko Klotz
Nicolas Mischke
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 19.07.2024 20:30Große Treppe vor St. Michael, Schwäbisch HallÖffentliche Generalprobe
Sa, 20.07.2024 20:30Große Treppe vor St. Michael, Schwäbisch HallPremiere
So, 21.07.2024 20:30Große Treppe vor St. Michael, Schwäbisch Hall
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