Fürs Musical-Machen schämen?

Bestandsaufnahme beim „Circle“: Musicaldarsteller leiden unter dem schlechten Image, dem Desinteresse der Intendanten und Existenzsorgen. Diese Punkte hatten die Teilnehmer des Branchentreffens ganz oben auf ihrer Liste. Doch sie wollen das Feld nicht kampflos räumen.

Ins Musical gehen? Schon grenzwertig. Aber Musical machen? Das ist doch überhaupt keine Kunst, lautet das gängige Vorurteil. „Wenn man sich beim Film, beim Theater oder der Oper bewirbt, ist es ein absolutes No-Go, zu sagen, man wäre Musicaldarsteller“, meint einer der Teilnehmer beim Branchentreffen „Circle 2005“ in Berlin. „Viele, die Musical machen, schämen sich dafür.“ Eine Kollegin pflichtet bei: „Ich habe für Schauspiel, Musical, Film und Synchron unterschiedliche Lebensläufe. Es ist wirklich schade – aber wenn man nicht trickst, dann hat man keine Chance.“

Es sind Erfahrungen wie diese, die Cornelia Drese und Ken Posey – beides gestandene Musical-Darsteller – dazu bewogen haben, erstmals zu einem solchen Treffen einzuladen. Rund 40 Kollegen, unter ihnen auch Regisseure, Komponisten und Texter, waren der Einladung gefolgt. Laut Drese und Posey hatten einige Kollegen ihre Absagen mit der Angst begründet, durch die Teilnahme an einer solchen „nach Gewerkschaft riechender“ Veranstaltung Nachteile bei künftigen Jobvergaben zu bekommen. Auf den Fluren ärgerte sich nicht nur „Sound of Music“-Betreiber Andreas Luketa darüber: „Viele Künstler machen nur ihr eigenes Ding. Wo sind denn die Darsteller, die derzeit gute Rollen haben? Wo sind die, die im Licht stehen?“ Als einzige prominente Darstellerin war Pia Douwes der Einladung gefolgt.

Dabei gäbe es viel zu besprechen – wie die in der ersten Diskussionsrunde vorgenommene Bestandsaufnahme zeigte. Das in Deutschland schlechte Image des Musicals bringt nach Angaben der Teilnehmer nicht nur Schamgefühle auf der Straße mit sich, sondern auch handfeste Nachteile. „Politiker braucht man wegen Fördergeldern nicht zu fragen. Da heißt es dann: Ihr verdient doch genug“, berichtete Drese, die mit Posey und einigen Kollegen im Februar einen Coleman-Abend auf die Beine gestellt hat. „Wir haben den Gegenwert eines Kleinwagens investiert. Dass wir das nicht zurückbekommen, wussten wir vorher.“ Dass in Stadttheatern selbst beim Vorsingen für ein Musical ein Musical-Lebenslauf von Nachteil sein kann, hatte Anne Mandrella in einem in der „Musicals“ abgedruckten offenen Brief berichtet. „Circle“-Teilnehmer bestätigten solche Erfahrungen.

„Wir leben in einer Zeit, in der die Alt-68er Intendanten geworden sind“, kritisierte ein Teilnehmer. „Das erklärt die Art des Theaters.“ Die Spielplanposition Musical sei vielfach schlicht als Geldbringer einkalkuliert, um die Experimente in Schauspiel und Oper zu finanzieren. „Da kann man dann natürlich kein Risiko eingehen und spielt wieder ,Cabaret‘ oder ,My Fair Lady‘.“ Ken Posey beklagte die mangelnde Stückkenntnis: „Es gibt seit 100 Jahren Musical, und viele Intendanten kennen gerade mal fünf.“ Es sei sogar schwierig, für ein Musical ein Theater zu mieten. „Die wollen lieber einen, der Oper singt und nackt in einen Eimer pinkelt.“

„Es könnte nicht mehr lange dauern, bis Stadttheaterensembles mit Ein-Euro-Jobbern aufgefüllt werden“, zeigte sich Jörg Löwer, neben seiner künstlerischen Arbeit auch in der Gewerkschaft GDBA (Bühnengenossenschaft) aktiv, überzeugt. Ihm sei ein Fall bekannt, wo Musicaldarsteller, die in einem Theater die Sommerbespielung gemacht haben, im Mehrbettzimmer geschlafen haben und nicht einmal genug Geld für die Heimfahrt verdienten. Theaterjobs.de-Betreiber Sören Fenner berichtete von drei Ensembles in Berlin und Hamburg, die nur auf Ein-Euro-Kräften basieren – zumal es für die Beschäftigung solcher Kräfte vom Staat noch einen Zuschuss gibt. „Auch die freie Szene, die jetzt noch 50 bis 80 Euro pro Abend zahlt, wird nach rechts und links schauen und sich dem anpassen“, prognostizierte er.

Trotz dieser Probleme war es aber keine gedrückte Stimmung, die den „Circle“ prägte – eher im Gegenteil. „Wir brauchen ein Wir-Gefühl, damit wir gemeinsam etwas tun können, um unsere Situation zu verbessern“, sagte eine Teilnehmerin. „Wir stecken uns gegenseitig mit Angst und Nervosität an, das müssen wir überwinden“, forderte eine andere. „Wir brauchen ein Sprachrohr, um unsere Interessen zu vertreten. In anderen Sparten gibt es das längst“, sagte ein Kollege. Auch wenn es über den Weg noch keine Einigung, sondern nur eine Ideensammlung gab: Der Wunsch, sich zu organisieren und gemeinsam für eine Verbesserung der Situation zu kämpfen, sprach aus vielen Wortbeiträgen.

„Es ist wichtig, dass unser Beruf überhaupt bestehen bleibt“, forderte Posey. Wer nicht nach Russland oder Italien auswandern oder sich auf Eventtheater spezialisieren wolle, der müsse überlegen, „wie wir uns ändern können, um weiter Musical Theatre in Deutschland machen zu können“. Nach der kritischen Bestandsaufnahme machten sich die Teilnehmer Gedanken über Zukunftschancen des Musicals in Deutschland (siehe separater Beitrag), und einigten sich darauf: Es soll weitergehen. Zunächst soll es eine Mailingliste zum Gedankenaustausch geben, in einigen Monaten soll dann ein weiteres Treffen in Berlin folgen. „Dort wollen wir uns einigen, was wir konkret machen – Schritt für Schritt“, sagte Drese nach Ende der rund achtstündigen Veranstaltung.

(Auf Wunsch der Veranstalter wird hier im Text teilweise auf eine Namensnennung verzichtet.)

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