Mit einer sechsstündigen Show zeigten die Absolventen der staatlichen Musical-Hochschulen potenziellen Arbeitgebern ihr Können. Das Publikum in Leipzig war sich weitgehend einig: 2006 ist ein guter Jahrgang.
Dass Doris Bierett demnächst in den Ruhestand geht, sieht man ihr nicht an. Ständig ist die frühere Gesangsdozentin mit den rot gefärbten Haaren im Foyer unterwegs – ein kurzer Plausch hier, Probleme lösen da, Listen organisieren dort -, und zwischendurch hält sie noch leidenschaftliche Plädoyers für Musicaldarsteller („singen, tanzen und spielen – das kann sonst keiner“) und das Engagement in Gewerkschaften („sonst passiert doch nichts“). Auch ihr Kollege Norbert Hunecke, Ex-Musicaldarsteller, ist zwei Tage lang im Gesprächs-Dauereinsatz: Informationen austauschen, über die künstlerische Zukunft des Musicals philosophieren, Netzwerke aufbauen. Wenn man nicht wüsste, dass man gerade auf der Veranstaltung einer Behörde – der Bundesagentur für Arbeit – ist, man würde es nicht merken. Ein größeres Kompliment kann man einer Behörde kaum machen.
Die Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) mit Sitz in Köln und Berlin ist eine Einrichtung der Arbeitsagentur und u.a. für die Vermittlung von Musicaldarstellern zuständig. In Leipzig organisierte sie jetzt zum dritten Mal eine „Absolventenpräsentation“ der deutschsprachigen Musical-Hochschulen. Insgesamt mehr als sechs Stunden Showprogramm hatten die 27 Absolventen der staatlichen Musical-Studiengänge in Berlin, Leipzig, Essen, München und Wien vorbereitet. Gespielt wurde es an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit mehreren hundert Besuchern.
Mit Pausen dauert ein solcher Tag mehr als acht Stunden – ein Mammutprogramm, zu dem sich auch etliche Fachbesucher angemeldet hatten, darunter Casting-Mitarbeiter der Stage Entertainment und anderer privater Theater, Regisseure sowie Vertreter der privaten Musicalschulen. Auch einige Stadttheater hatten Beobachter geschickt. Für Darsteller wie Besucher spricht die große Disziplin des Publikums: Auch gegen Ende des langen Theatertages waren die Reihen noch gut besetzt, und während der Aufführungen gab es viel konzentriertes Zuhören und kaum Getuschel.
Für die Absolventen sollte die Veranstaltung vor allem eines bringen: Kontakte zu möglichen Arbeitgebern. Eine erste Zwischenbilanz am zweiten Tag fiel gemischt aus. Während einige Sänger sowieso schon feste Verträge haben, hieß es von anderen: „Konkrete Anfragen gab es noch nicht.“ Wiederum andere waren da erfolgreicher. Im Foyer wurden eifrig Visitenkarten ausgetauscht und Einladungen zu Ensuite-Castings ausgesprochen.
Für ihre Präsentationen von Gesang, Schauspiel und Tanz hatten die Hochschulen weitgehend freie Hand – und nutzten diese Möglichkeiten auf sehr unterschiedliche Weise. So überraschte die gastgebende Leipziger Hochschule für Musik und Theater auch etliche Fachbesucher mit einer runden, liebevoll inszenierten Show, die insbesondere im schauspielerischen Bereich Maßstäbe setzte. Im Setting eines Friseursalons spielten die fünf Absolventen durchgehende Charaktere und sangen Songs von Coleman über Sondheim bis Shaiman („Hairspray“). Komödiantisches Highlight: „Easy to be hard“, interpretiert von Julia Margareta Klotz als völlig verunstalteter Friseur-Kundin.
Insgesamt weniger rund war die Präsentation der Berliner Universität der Künste, die allerdings mit neun Absolventen auch die größte Gruppe an Darstellern in ihren 90 Minuten unterbringen musste. Gab es im ersten Teil wenige Highlights wie das ebenso pfiffig übersetzte wie von Benjamin Eberling und Martin Schäffner gespielte „If you were gay“ aus „Avenue Q“ („und wärst du schwul, ich fänd das cool“), änderte sich das mit dem finalen „Letterland“-Block – eine Produktion, die dieser Jahrgang erarbeitet und uraufgeführt hat. Hier saßen Schauspiel, Gesang, Tanz und Inszenierung, das Publikum war begeistert. Insgesamt glänzen konnten die UdK-Schüler vor allem im Bereich Tanz, in dem sie alle anderen Schulen abhängten.
Gut, aber nicht herausragend präsentierte sich die Abschlussklasse der Folkwang-Hochschule in Essen. Im Gesang gab es Höhepunkte – etwa der Opener „Myths&Hymns“ von Artur Molin oder die deutsche Version von „Let me walk“ aus „Bat Boy“, interpretiert von Marc Liebisch, auch im Tanz zeigten sich die Absolventen in guter Form. Insgesamt war die Präsentation aber nicht so rund wie die aus Leipzig oder jene der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München.
Letztere konzentrierte sich voll auf die gesangliche Stärke ihrer sechs Absolventen, verzichtete fast vollständig auf Tanzeinlagen und wechselte vorzugsweise unbekanntere Balladen (z. B. von Stephen Sondheim, Jason Robert Brown und Jason Howland) mit klassischen Texten. Heraus kam keine abwechslungsreiche Show, aber ein schöner Liederzyklus zum Thema Liebe – und begeisterter Applaus vom Publikum, weil insbesondere die Damen sehr gesangsstark auftraten.
Das Konservatorium Wien hatte mit Mark Seibert einen Absolventen geschickt – der musste aber vor der besuchten Show am Samstag wieder abreisen, um in „Romeo&Julia“ den Tybalt zu geben.
Alle Schulen konzentrierten sich weitgehend auf weniger bekannte Songs. Diese bleiben zwar, gerade in einer sechsstündigen Show, weniger im Gedächtnis, haben aber den Vorteil, dass die Interpretation sich nicht mit einer bekannten CD-Version messen lassen muss. Und tatsächlich: Wenn die Schüler sich an bekannte Nummern wagten – sei es aus „Elisabeth“, „42nd Street“, „Wicked“ oder „Chicago“ – entstand oft der Eindruck: Da haben sie sich ein wenig verhoben. Wer aber in einer solchen Nummer bestehen konnte, wie die Berliner Absolventin Filipina Henoch mit „I’d give my life for you“ aus „Miss Saigon“, blieb umso positiver in Erinnerung.
2007 soll die Absolventenpräsentation in Berlin stattfinden, wieder ausschließlich mit Teilnehmern von den staatlichen Hochschulen. „Alles andere würde den Rahmen sprengen“, sagt Doris Bierett, „außerdem wären die Schwankungen im Niveau zu groß – nicht zuletzt, weil die Ausbildung an den staatlichen Schulen mindestens ein Jahr länger dauert als an den privaten.“ Aber an dem Konzept für eine Extra-Veranstaltung der privaten Schulen („eine Art Best-Of“) würde gerade gefeilt. „Das will ich noch anschieben, bevor ich in Pension gehe“, sagt Doris Bierett und ist schon wieder unterwegs, um das nächste Problem zu lösen.