Jeden Tag ein anderes Hotelzimmer

Aus Studenten werden Absolventen (Erster Teil): Wie sieht die Musicalwelt aus im Jahr Eins nach dem Verlassen der geschützten Hochschulwelt? Für die Musicalzentrale zieht UdK-Absolventin Maria Kempken eine erste Bilanz zum Thema Stadt- und Tourneetheater, Auditions und Broadway.

Rückblende: Sommer 2006, auf dem Spielplan der Neuköllner Oper in Berlin steht „Erwin Kannes“ (später umbenannt in „Letterland“) von Thomas Zaufke (Musik) und UdK-Dozent Peter Lund (Buch/Text), die ihren Absolventen das Stück auf den Leib schneidern. Mit dabei: Maria Kempken. Doch in der Stück-Entwicklung fühlt sich Maria unwohl. Ursprünglich ist ihre Rolle als Hosenrolle angelegt. Sie springt nach langem Zögern über ihren Schatten und bittet Autor Peter Lund („Unglaublich, wie der innerhalb weniger Wochen dann das ganze Stück runtergeschrieben hat!“, staunt sie noch heute), ihre Rolle zu verändern. Es entsteht die Rolle der blond-dreisten Sandy Deutschmann. Stück für Stück gelingt ihr in der Erarbeitung die Identifikation mit der Rolle. Ein wichtiger Tipp von Autor und Regisseur Lund: „Man muss jeden Charakter, den man spielt, irgendwie lieben lernen.“

Doch Maria muss auch lernen, Grenzen zu setzen: „Da musste man dann nach den Proben schon mal deutlich machen, dass es einen Unterschied gibt und sagen: Moment, ich bin jetzt Maria und nicht mehr Sandy!“ Nach der ersten Spielserie ist Schluss für Maria. Bei der Wiederaufnahme ist sie nicht mehr dabei, für die Rolle der Klara in „Heidi“ in der Schweiz lässt sie Berlin hinter sich.

Szenenwechsel, ein halbes Jahr später: Mit ersten Erfahrungen u.a. als Kit-Kat-Girl in „Cabaret“ am Theater in Brandenburg und in „Anything Goes“ in Mannheim hat die junge Darstellerin die Mühlen des Alltagsbetriebes kennengelernt. „Vieles ist da ganz neu und ungewohnt, man muss sich über Verträge Gedanken machen und um sich überschneidende Spieltermine an zwei Stadttheatern.“ Eine große Hilfe ist für sie Renate Baumgarten, die zuständige Musical-Agentin von der ZBF, die immer wieder vermittelt, bei Problemen hilft und für viele junge Darsteller Ansprechpartner ist.

Maria landet schließlich auf der Bühne des Grenzlandtheaters in Aachen. „Willkommen im Paradies“ heißt das Stück, erneut eine Uraufführung. „Drei emotionale Monate“ nennt Maria die Zeit mit acht Vorstellungen pro Woche ohne Spielpause heute. „Kräftezehrend, enorm anstrengend, aber auch bereichernd.“ Ein Betrieb ohne Rast und ohne Zeit, sich zu orientieren. Durch den pausenlosen Einsatz keine Chance, sich um Anschlussengagements zu kümmern, keine Zeit, zu Auditions zu gehen. Dann, glücklicher Zufall, sitzt der Chef der Konzertdirektion Landgraf im Theater, spricht Maria nach der Vorstellung an. Man werde sich melden. „Die Zeit des Wartens ist überhaupt das Schlimmste“, so ihr Fazit nicht nur aus dieser Situation. Schließlich kommt die ersehnte Rückmeldung, nach einigem Hin und Her schaut dann – statt Audition – auch der Regisseur der Landgraf’schen „Anatevka“-Tournee vorbei, Maria ist engagiert.

Tourneeproduktion mit Gunther Emmerlich, später Tony Marshall als Tevje – quer durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und Luxemburg. „Wir hatten nachmittags tatsächlich Zeit, uns ein bisschen in den Städten umzusehen“, freut sich Maria. „Deutschland ist seitdem für mich sehr, sehr klein geworden.“ Dennoch setzt der Tourneestress ein. „Jeden Tag ein anderes Hotelzimmer!“: für die als Zeitel engagierte Wahlberlinerin irgendwann keine Perspektive mehr. „Als ich nach Hause kam und das erste Mal nach Monaten wieder in meinem eigenen Bett schlief, war mir klar, dass die Herumreiserei ein Ende haben sollte.“

Doch vor der längerfristigen Rückkehr nach Berlin wartete das für Maria ultimative Abenteuer: New York. „Ich habe davon schon vor einigen Jahren geträumt, und als ich dann irgendwann eines Nachts allein am Computer saß und ein günstiges Angebot fand, habe ich dann einfach die Tickets gekauft“, erzählt sie von der spontanen Umsetzung ihres Traums.

Für drei Monate in New York zu leben und zu lernen, lautete die Herausforderung. „Ich habe mich erstmal bewusst von der deutschen Kolonie ferngehalten, um mir die Stadt selbst zu erarbeiten und zu erschließen.“ Auf dem Programm standen Schauspielkurse („Leider nicht in den Strassberg Studios, die hatten zu dem Zeitpunkt keine Kursanfänge“), aber auch tänzerische Weiterbildung. „Das lief da völlig anders als bei uns“, berichtet Maria, die neben ihrer Musicalausbildung unter anderem auf einen deutschen Vizemeistertitel im Stepptanz verweisen kann. „400 Leute in einem Hotel in einem Riesensaal, der Choreograph auf einem Podest mit Microport und auf Großbildleinwand übertragen.“ Dazu kamen Auftritte in einem Werbespot („Das ging jede Nacht bis drei, vier Uhr, wir sind dann eines Morgens direkt danach zum Sonnenaufgang in den Central Park gegangen, dann zwei Stunden ins Bett, dann wieder ans Set.“) und natürlich vielfältige Besuche auch in New Yorker Theatern.

Im direkten Vergleich schneidet die deutsche Musicalszene für Maria Kempken durchaus gut ab: „Wenn ich die Darsteller am Broadway sehe – das können viele der bei uns gut ausgebildeten Leute inzwischen auch. Und die Theaterlandschaft ist natürlich in Deutschland weiter übers Land verteilt, als in dieser unglaublichen Zusammenballung in New York. Aber wenn ich mir Stücke wie „Avenue Q“ oder „Spelling Bee“ angucke – auf dem Niveau können für mich die Stücke von Zaufke/Lund wie „Letterland“ oder „Held Müller“ durchaus mithalten. Dafür braucht es dann eben hier wie dort jeweils ein Theater mit einer dem Stück angemessenen Größe.“

Zurück in Deutschland entsteht das erste eigene Soloprogramm: „New York, New York“. „Quasi ein musikalischer Reisebericht, viele Standards, dazwischen immer wieder kleine Geschichten und Ereignisse.“ Auf die Bühne kommt das Stück in Marias Heimatstadt Nürnberg im familieneigenen Theater „Rote Bühne“.

Was danach kommt? Maria weiß es noch nicht: „Doch im vergangenen Jahr habe ich gelernt, mit dieser Ungewissheit zu leben, sie auch als Herausforderung anzunehmen.“ Ihr großer Wunsch ist es, zunächst einmal in Berlin wieder ein bisschen Heimat zu finden, nach der Reiserei zur Ruhe zu kommen. Auditions stehen auf dem Programm, nicht unbedingt ihre größte Leidenschaft, wie sie zugibt: „Dennoch, Auditions sind das Schwierigste in dem Beruf, da gilt es, unter großem Druck und innerhalb kürzester Zeit hohes Niveau zu beweisen, obwohl man das eigentlich kaum innerhalb von fünf Minuten kann.“

Dass einige ihrer Abschlusskolleginnen inzwischen in großen Stage-Entertainment-Produktionen auf der Bühne stehen, stört Maria nicht: „Für mich war es gut, dieses Jahr als Zeit der Reife und des Lernens zu haben.“

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