Viele Pleiten, aber auch positive Überraschungen und sogar erste Anzeichen, dass das Genre irgendwann aus der Schmuddelecke herauskommen könnte: So sieht unsere Bilanz für das Musical-Jahr 2007 in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus.
Das Ärgernis des Jahres: „Du sollst nicht lügen“ – das steht nicht nur in der Bibel, sondern auch in den Kodizes der PR-Berufsverbände. In der Musicalbranche werden diese berufsständischen Regeln oft ignoriert. Immer wieder sind angeblich „logistische“ oder „technische“ Probleme verantwortlich, wenn eine Tournee wegen schlechten Kartenverkaufs abgebrochen wird – das „Diana“-Musical und „Die Martin-Luther-King-Story“ dürften 2007 in diese Reihe gehören. Leider hat sich auch die Stage Entertainment mal wieder dazugesellt. Einige Wochen vor der Premiere, so berichten es unabhängig voneinander verschiedene Produktionsbeteiligte, besuchte Konzernlenker Joop van den Ende eine Preview von „Ich war noch niemals in New York“ – und war offenkundig derart wenig begeistert, dass er Regisseur Christian Struppeck von seinen Aufgaben entband. Hätte man nun von „künstlerischen Meinungsverschiedenheiten“ gesprochen, wäre das die Wahrheit gewesen – keine tolle Nachricht für die Produktion, aber langfristig sicher auch kein Schaden. Stattdessen wollte man alles perfekt machen und griff zur Lüge: „Gesundheitliche Gründe“ hätten zu der Trennung geführt. Die Medien haben es im Wesentlichen geschluckt. (Auch wenn das „Hamburger Abendblatt“ es offenkundig nicht glauben wollte, bei Udo Jürgens nachfragte und der sich zu der denkwürdigen Aussage verstieg, man habe sowieso vor der Premiere noch einen erfahrenen Broadway-Mann über die Show gucken lassen wollen.) In Branchenkreisen hat der Konzern damit wieder ein Stück seiner Glaubwürdigkeit verspielt. Kluge Kommunikation sieht anders aus.
Die Überraschung des Jahres: „Elisabeth – Die Legende einer Heiligen“ in Eisenach. Namhafte Darsteller in den Hauptrollen (Sabrina Weckerlin, Chris Murray) und vor allem ein brilliantes Marketing in Verbindung mit dem Thüringer Elisabeth-Jahr und der Landesausstellung sorgten für ein übervolles Haus in der Wartburgstadt. Für die Sommer-Spielpause hatten die Produzenten Dennis Martin und Peter Scholz das Eisenacher Landestheater mietfrei übernommen, um ihre Eigenproduktion auf die Bühne zu bringen. Ein Konzept, das mit einem Musical um den Fuldaer Regionalheiligen „Bonifatius“ drei Sommer lang ähnlich funktioniert hatte. Mit solidem Kirchenpop, einem eher schwachen Buch, aber hervorragenden Darstellerleistungen gelang es, in 88 ausverkauften Vorstellungen rund 48.000 Zuschauer nach Eisenach zu locken. Auch für die Sommerpause 2008 ist das Haus inzwischen für eine Wiederaufnahme gebucht. Stark!
Die Pleiten des Jahres: Andere Produzenten waren nicht so geschickt. Missmanagement, Marketingchaos und vor allem unausgegorene und nicht marktfähige Stücke sorgten 2007 für eine üppige Liste an verblichenen Produktionen. Das Festspielhaus Neuschwanstein trug auch seinen zweiten „Ludwig“ zu Grabe, zog aufgrund nicht gesicherter Gehaltszahlungen die Notbremse und stellte den regulären Spielbetrieb ein. Auch die „Käptn Blaubär“-Tour kam über das Gastspiel in Köln nicht hinaus und stellte wegen mangelnder Kartennachfrage den Betrieb ein. John Cashmore verhob sich an einer überarbeiteten Neuauflage von „Gaudi“, als Doppeltournee kombiniert mit der selbstgeschriebenen James-Bond-Verwurstung „Licence 4 Two“, die schon die erste Tourneestation in Alsdorf nicht überlebte. Nach der Premierenverschiebung der „Miss Bollywood“-Tournee folgte nach wenigen Vorstellungen in Berlin auch für diese Show das Aus. „Die Schwarzen Brüder“ scheiterten in Schaffhausen nach einer künstlerisch erfolgreichen ersten Spielzeit an der katastrophalen Kostenstruktur und dem Vorhaben der Produzentin, die Kosten durch die Einnahmen einer zweiten Staffel wieder einzuspielen. Nicht einmal auf die Bühne schaffte es schließlich das als Großtournee angekündigte „Diana“-Musical. Unter Hinterlassung offener Hotelrechungen bei nur teilweise gezahlten Gagen wurde das Ensemble des fast aufführungsfertigen Stückes (Regie: Eddie Habbema) nach Hause geschickt und die auch nur spärlich beworbene Premiere aus „technischen Gründen“ abgesagt. Eine Wiederaufnahme der Proben steht in den Sternen, für vereinzelte Tourneestandorte im Jahr 2008 werden dennoch Tickets verkauft. Ebenfalls in den Sternen steht, ob die verschobenen Uraufführungen von „Excalibur“ (Steiermark) und „Brave Heart“ (Bremen) jemals das Licht der Theaterwelt erblicken.
Der Doppelschlag des Jahres: Zwei große Premieren in einem Jahr – ein ungewohnter Luxus für das deutsche Ensuite-Publikum. Mit „Wicked“ und „Ich war noch niemals in New York“ sorgte die Stage Entertainment in einem ansonsten von der Rotation bestehender Produktionen geprägten Jahr für einen Doppelschlag zum Jahresende. Nur knapp vier Wochen lagen zwischen zwei Premieren, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die Platzierung von „Wicked“ in einem der Stuttgarter SE-Häuser statt an Schwerpunkt-Standort Hamburg oder in der Hauptstadt machte schnell deutlich, dass man in der Zentrale die Schwierigkeiten, einem deutschsprachigen Publikum die Geschichte um den Zauberer von Oz plausibel zu machen, hoch bewertete. Während das Stück und die damit eng verbundene Geschichte in den USA und England quasi Allgemeingut sind, setzte man in Deutschland in der Vermarktung lieber auf den allgemeinen Fantasy-Trend und entschied sich für eine – unter anderem von innovativer Fernsehwerbung geprägte – „kleinere“ Markteinführung. Für eine Überraschung sorgte dann die Besetzung der beiden weiblichen Hauptrollen mit den nur in Fachkreisen bekannten Darstellerinnen Willemijn Verkaik und Lucy Scherer, die sich schon mit dem Erscheinen der ersten Promotion-Aufnahmen als Volltreffer erwies. Auch die mit Spannung erwarteten Übersetzungen von Michael Kunze und Ruth Deny überzeugten überwiegend. So konnte die Show die hohen Erwartungen, die vor allem in Fachkreisen über Jahre aufgebaut worden waren, einlösen und erhielt überwiegend positive Kritiken.
Überraschend als Problemkind erwies sich hingegen das Udo-Jürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“, das im Hamburger Operettenhaus die Nachfolge des Dauerläufers „Mamma Mia!“ antrat. Die erste Eigenentwicklung der deutschen Stage Entertainment, in der Weihnachtsoffensive 2006 als Start einer Reihe eigener Projekte verkündet, sorgte schon vor der Premiere für Schlagzeilen. Regisseur und Co-Autor Christian Struppeck wurde vier Wochen vor der Premiere durch den eher unbekannten „Broadway-Regisseur“ Glen Casale ersetzt, der das Buch zusammenkürzen und für einen durchgehenden Boulevardkomödien-Tonfall sorgen sollte. Das Endresultat konnte schließlich nur einen Teil des Publikums befriedigen. Während begeisterte Udo-Jürgens-Fans die zumeist in bunte Revue-Nummern verwandelten Songs des Stückes bejubelten, sorgten die Buchfragmente und die mangelhafte Personenregie bei vielen Besuchern für Kopfschütteln. Sich redlich mühende Darsteller und die Evergreen-Qualitäten der musikalischen Vorlagen sorgten dennoch für positive Resonanz in der Boulevardpresse und werden vermutlich auch weiterhin für ein ordentlich gefülltes Haus an der Reeperbahn sorgen.
Der Neu-Klassiker des Jahres: Ähnlich wie in den vergangenen Jahren „Les Misérables“ wird wohl auch „Jekyll & Hyde“ zum viel inszenierten Dauerbrenner. Die Zugänge der ersten „freien“ Produktionen waren durchaus unterschiedlich. Die Oper Chemnitz (Regie: Michael Heinicke) stellte eine in die Jetztzeit transportierte Handlung auf die Bühne, das Theater Bielefeld (Leonard C. Prinsloo) inszenierte einen Horror-Thriller. Im Stadttheater Bozen (Hans Holzbecher) lief eine an Dietrich Hilsdorfs Originalinszenierung angelehnte Version und die Freilichtbühne Tecklenburg (Cusch Jung) zeigte eine konservative, aber durch große Menschenmassen durchaus eindrucksvolle Open-Air-Variante. Die Saarbrücker Inszenierung (Bernhard Stengele) kurz vor Jahresende fiel dann durch die Streichung von Nebenfiguren und die Konzentration auf die drei Hauptfiguren auf. „Jekyll & Hyde“ wird wohl ähnlich viele Inszenierungen schaffen wie in den vergangenen Jahren „Les Misérables“. Für 2008 sind schon weitere Produktionen in Dresden, Bad Vilbel und Bad Hersfeld angekündigt.
Der Hoffnungsschimmer des Jahres: Zeitgenössisches Musical und staatliche Theater – warum findet so selten zusammen, was eigentlich zusammengehört? Wenn man von Wien (Kammeroper, Vereinigte Bühnen) absieht, haben sich in der Vergangenheit nur kleine, überwiegend privat finanzierte Bühnen als Hochburgen für modernes Musical profiliert: die Neuköllner Oper Berlin, das Kelley Theatre Stuttgart, in Ansätzen das Wechselbad Dresden und das English Theatre Frankfurt. Um von einer Trendwende zu sprechen, ist es wohl noch zu früh, aber immerhin: Es gibt inzwischen auch einige staatlichen Theater, in denen Musical nicht nur als lästige Pflichtübung für die Seniorenabonnements angesehen wird. Das Theater St. Gallen hatte bereits 2005 mit der Europapremiere von „Dracula“ auf sich aufmerksam gemacht und hat mit „Hairspray“ (2008) und der Uraufführung von Wildhorns „Der Graf von Monte Christo“ (2009) spannende Shows angekündigt. „Dracula“ auf der Grazer Schlossbergbühne war eine der wichtigsten Produktionen dieses Jahres – und so reichhaltig mit fundiertem Musical-Beiprogramm ausgestattet, dass man für die nächsten Jahre sicher noch einiges erwarten kann. Und in Hannover hat Jörg Gade, einer der ganz wenigen Musicalkenner unter den Intendanten staatlicher Theater, die Chance der Fusion zweier Bühnen zum Theater für Niedersachsen genutzt, um – das gab es noch nie – eine eigene Musicalsparte einzurichten und für die nächsten Jahre ein wahres Feuerwerk an deutschsprachigen Erstaufführungen anzukündigen. Setzt sich am Ende vielleicht doch noch die Erkenntnis durch, dass man mit modernen Musicals gleichzeitig Kunst machen und das Publikum erreichen kann?