Karrierrekiller Musical

Mit Musicalengagements im Lebenslauf haben Darsteller kaum eine Chance, wenn sie sich im Opern- oder Schauspielbereich bewerben wollen. Doch an den Vorurteilen gegen das Musical sind die Musicalmacher selbst nicht ganz unschuldig.

Es ist kein Einzelfall: Ein Sänger, der an einem deutschen Stadttheater engagiert war, bittet die muz-Redaktion darum, seinen Namen aus der Castliste zu streichen. Er wolle sich im Opernbereich einen Namen machen, und da sei es ein Problem, wenn sein früheres Engagement via Google bekannt würde. Die Entscheidung hat der Sänger sich nicht leicht gemacht: „Ohne meine Musicalerfahrungen wäre ich nicht der Künstler, der ich heute bin“, sagt er von sich. Dank seiner Musicalausbildung könne er auch spielen und sich auf der Bühne bewegen: „Ein großer Vorteil gegenüber meinen Opernkollegen.“

Trotzdem bleibt die Angst vor den Vorurteilen. Cornelia Drese, die einst als die deutsche Grizabella Musicalgeschichte schrieb und heute hauptsächlich unterrichtet, kennt das Problem ebenfalls: „Die Vorurteile werden schon an den Schulen aufgebaut.“ Wer Opernsänger werden will, dem wird vom Musical dringend abgeraten. Drese erzählt von dem Anruf einer Gesangsdozentin, die einen Schüler heimlich zum Musicalsingen zu Drese schickte – mit der Bitte, dass es an ihrer Schule bloß niemand erfahren dürfe. Und von einer anderen Dozentin, die einem Schüler partout „Dies ist die Stunde“ als Auditionsong verbieten wollte – aus Angst, dass ihre eigene Karriere an der Hochschule darunter leiden könnte. „Viele aus der Opernzunft können nicht akzeptieren, dass jemand vielleicht beides kann“, sagt Jan Ammann, der zu den wenigen Sängern gehört, die in beiden Genres Erfolg haben.

In der Schauspielbranche gelten dieselben Vorurteile: „Wenn man ernsthaft als Schauspieler arbeiten will, sollte man seine Musicalausbildung lieber verschweigen“, rät Arbeitsmarktexperte Sören Fenner von theaterjobs.de. Fenner kennt das Problem aus eigener Erfahrung: Zwei Jahre war der gelernte Musicaldarsteller am Landestheater Coburg engagiert, spielte dort überwiegend Schauspielrollen. Auf seine anschließende Bewerbung an 40 Theatern bekam er aber nicht eine Einladung zum Vorsprechen: „Mit einer Musicalausbildung hat man an größeren Stadttheatern fast keine Chance auf ein Festengagement.“ Auf seinem Jobportal hat Fenner den Begriff Musicaldarsteller sogar abgeschafft, unterscheidet Jobs nur nach Sprech- und Musiktheater: „Wenn es den Begriff nicht gibt, kann man auch nicht in diesen Kategorien denken.“

Aber woran liegt es, dass Musicaldarsteller einen solch schlechten Ruf haben? Ist es die Angst der Opern- und Schauspielschaffenden vor Konkurrenz um die raren Jobs? Ist es das leidenschaftlich gepflegte Vorurteil, die zum Selbstverständnis nötige Abgrenzung der sich oft als Kulturelite verstehenden Mächtigen in den subventionierten Theatern? Wer mit Branchenkennern über das Thema spricht, bekommt noch zwei weitere Erklärungen angeboten, die den Intendanten kein gutes Zeugnis ausstellen:

Unfähige Regisseure. „Ein Musical zu machen, traut man jedem Regisseur zu“, sagt Norbert Hunecke, früher selbst Musicaldarsteller und heute bei der Arbeitsagentur für die Vermittlung von Musicalschaffenden zuständig. Das liege an der fehlenden Wertschätzung in den Theatern: Dass Musical ein Genre mit eigenen Gesetzen sei, werde nicht anerkannt. „Es gibt Regisseure, die haben noch nie etwas von Timing oder dem richtgen Ausleuchten gehört. Da fehlt es einfach an Fachwissen.“ Entsprechend lahm seien manche Musicalproduktionen. Das Vorurteil bestätigt sich selbst.

Langweilige Produktionen. Sören Fenner schlägt in eine ähnliche Kerbe: Musical sei oft einfach nicht gut genug, um die Vorurteile zu widerlegen. Privattheater spielten fast nur noch Revuen. „Wir erzählen keine Geschichten mehr“, sagt Fenner. Auch Stadttheater würden Musicals oft nicht ernst nehmen: „Die Orchestermusiker üben Musicals nicht, Intendanten sehen sie nur als Quotenbringer – man macht sich einfach keine Gedanken.“ Das sieht auch sein Kollege Jörg Löwer, Darsteller, Choreograph und Gewerkschafter, so: Die in London und New York auch gezeigten Handlungsmusicals mit originärer Musik kämen oft nicht nach Deutschland. Deshalb stecke das Genre in der Leichte-Muse-Schiene fest.

Sind Musicaldarsteller also nur die Opfer, die gegen die Windmühlen fremder Vorurteile ankämpfen müssen? Nein. Es gibt auch andere Erklärungsansätze, nach denen die Darsteller zumindest mitschuldig sind:

Mangelnde Qualität. Jan Ammann sieht die hohe Zahl an Aufführungen und die Arbeit mit einem Mikrofon als Hauptprobleme der Musicalsänger. Dynamisch zu singen, sei oft vergebene Liebesmüh, weil die Tontechnik dagegenarbeite und Einheitsbrei produziere. „Wer zu lange Musical singt, der wird Probleme bekommen.“ Arbeitsvermittler Hunecke sieht auch ein Ausbildungsproblem: „Manche Ausbildungsstätten gehen beim Gesangsunterricht nur noch in die Höhe. Selten wird heutzutage auf fundierte Flankenatmung geachtet.“ Zudem bringt nicht jeder Darsteller beim versuchten Wechsel in andere Genres eine gesunde Selbsteinschätzung mit: „Ich habe auch Musicalkollegen erlebt, die fehlende Angebote mit dem versuchten Wechsel ins Schauspielfach ausgleichen wollten“, sagt Löwer. Das sei nach hinten losgegangen.

Arrogantes Auftreten. Die Musicaldarsteller sind nicht nur Opfer von Vorurteilen, sie bringen auch selbst welche mit. „Wir haben doch auch unsere Klischees von Oper und Schauspiel“, sagt Fenner. Löwer berichtet ebenso von einem Regisseur, der Musicalleute vor versammelter Mannschaft pauschal als „Knallchargen“ bezeichnet, wie von umgekehrten Fällen: „Ich habe in Stadttheater-Produktionen auch arrogante Musical-KollegInnen erlebt, die sich über den Chor oder beteiligte festangestellte Schauspieler lustig gemacht haben.“ Zur Befriedung trägt das nicht gerade bei.

Die gegenseitige Verachtung von Musical und Oper/Schauspiel ist für die Musicalschaffenden besonders ärgerlich, weil über den Einsatz der Subventionen in der Regel Vertreter der Gegenseite entscheiden. Gibt es einen Weg hin zu mehr gegenseitigem Verständnis? Cornelia Drese, die 2005 selbst einmal eine Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema organisiert hatte, glaubt nicht, dass Reden weiterhilft: „Nur die gemeinsame Arbeit in der Praxis“ könne dazu führen, dass man sich gegenseitig respektiert. Hunecke glaubt, entsprechende Tendenzen schon zu erkennen: Gerade bei jungen Sängern und Schauspielern sei das Interesse gewachsen, auch mal Musical auszuprobieren. „Schön wäre es, wenn auch in den Theatern noch mehr branchenübergreifendes Denken stattfinden würde.“

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