Die Musicaladaption von Roald Dahls Kinderbuchklassiker „Matilda“ am West End war und ist ein Riesenerfolg: Der Londoner Produktion wurden sieben Laurence Olivier Awards verliehen; die am Broadway produzierte Aufführung gewann fünf Tony Awards. Wie immer in solchen Fällen ist eine Verfilmung über kurz oder lang schier unvermeidlich – die Leinwandadaption des Erfolgsmusicals feierte im Oktober 2022 ihre Weltpremiere, lief im Vereinigten Königreich ab November 2002 und in den Vereinigten Staaten ab Dezember 2022 in den Kinos und ist hierzulande nun auf der Streamingplattform Netflix zu sehen.
Dass sich Filmversionen von populären Musiktheaterwerken auch sehr schnell zu einem künstlerischen Himmelfahrtskommando entwickeln können, hat vor nicht allzu langer Zeit mehr als eindrücklich die völlig verunglückte „Cats“-Verfilmung gezeigt. Für „Matilda“ ging man nun den Weg, den Regisseur des zugrundeliegenden Bühnenwerkes mit der Inszenierung der Kinofassung zu beauftragen. Eine Entscheidung, die schon dem „Mamma Mia!“-Film sehr gut getan hat. Zudem verfügt diese Vorgehensweise über den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sämtliche kontroversen Diskussionen über zwangsläufig entstehende Abweichungen des Films gegenüber der Bühnenvorlage elegant und geschmeidig im Keim erstickt werden können, denn wer kennt das Material besser als der Regisseur, der es in einem anderen Medium schon mal zu einem Erfolg geführt hat?
Um eine solche Abweichung handelt es sich bei „Matilda“ vor allem bei der Entscheidung, die Rolle der Miss Trunchbull, die auf der Bühne für gewöhnlich von einem männlichen Darsteller verkörpert wird, mit einer Frau zu besetzen: In dem Film spielt Emma Thompson die Bösewichtin – sicherlich eine für die Vermarktung äußerst attraktive Besetzung. Schade nur, dass man von Emma Thompsons Schauspielkunst nicht allzu viel zu sehen bekommt, da eine schier alles verdeckende Maske nicht viel von ihren echten Gesichtszügen preisgibt. Natürlich ist Thompsons Miss Trunchbull widerwärtig, abgrundtief böse und auch furchteinflößend. Ein echtes Monster eben. Wofür nicht zuletzt auch ein ausladendes Fatsuit-Kostüm im faschistoiden Militär-Look sorgt. Nur: Eine wirklich beeindruckende Rolleninterpretation oder gar Charakterstudie kommt angesichts des ganzen Hollywood-Masken-Schnickschnacks nicht beim Zuschauer an. Hier hätte man einfach mehr seiner Darstellerin vertrauen sollen, denn im Grunde genommen spricht nichts dagegen, eine britische Star-Schauspielerin in einem britischen Erfolgsstück auch als solche erkennen zu können.
Eine weitere künstlerische Entscheidung, die dafür gesorgt hat, dass es zu merklichen Abweichungen von der Bühnenfassung kommt, ist die deutliche Reduktion der Präsenz der Familie Wormwood im Film. Dass Matildas nichtsnutziger Bruder Michael herausgeschrieben wurde, ist dabei nur die geringste Änderung. Sowohl der Vater als auch die Mutter verlieren ihre eigenen Songs, die in der dramatisch-melancholischen Bühnenshow für die heiteren und flotten Showmomente sorgten. Dabei wirkt es fast wie eine Ironie des Schicksals, dass der Song „Telly“ der Schere zum Opfer fiel, prangert er doch das unreflektierte und bildungsferne Dauerglotzen vor dem Fernseher an, wofür letztlich auch ein Streamingdienst wie Netflix steht, bei dem dieser Film nunmehr global ausgestrahlt wird. Im Sinne von Roald Dahls Werk bleibt zu hoffen, dass es sich hierbei tatsächlich auch nur um eine künstlerische Entscheidung gehandelt hat und nicht um ein Zugeständnis an die Vermarktungsmöglichkeiten.
Erreicht wird durch die vorgenannten Änderungen die Fokussierung auf den Konflikt zwischen Matilda und Miss Trunchbull, die einen echten Gegner für die gewitzte, hochintelligente und sogar mit telekinetischen Fähigkeiten ausgestattete junge Heldin darstellt. Ihre strunzdummen Eltern, mit sichtlich großer Lust von Stephen Graham und Andrea Riseborough gespielt, können in dieser Hinsicht tatsächlich nicht mithalten. Diese Schwerpunktverlagerung funktioniert im Film sehr gut und Regisseur Matthew Warchus findet mit ebenso großer Lust und Wonne hierfür sehr beeindruckende Bilder, für deren Herstellung auch immer wieder die heutigen großzügig zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten bemüht werden. Vor allem die sich zusehends zu einem Zweikampf verdichtende „The Smell of Rebellion“-Szene gerät zu einer düsteren, existenziellen Auseinandersetzung, in der die gutmütige wie wehrhafte Unschuld Matildas der boshaften Tyrannenherrschaft von Miss Trunchbull gegenübergestellt wird. Das ist der Stoff, von dem Leinwandepen wie „Star Wars“ und „Carrie“ schon sehr gut gelebt haben. Ein bisschen weniger Produktionsbombast hätte man sich bei der Erzählung der „Escapologist and the Acrobat“-Geschichte gewünscht: Auf der Bühne wird diese mit einem scherenschnittartigen Spiel mit Licht und Schatten erzählt, ganz einfach und eben deswegen auch so beeindruckend. Die dazugehörigen Bilder werden dabei der Fantasie des Zuschauers überlassen. Die Verfilmung hingegen zeigt diese in allen Einzelheiten und mit großem Aufwand – hier geht eindeutig der Zauber der Vorlage zugunsten des Schauwertes verloren.
In anderen Momenten des Films findet die fesselnde Magie, die von dem Bühnenwerk ausgeht, ihre visuelle Entsprechung. So z.B. bei dem Song „Quiet“, mit dem sich Matilda in überirdische Höhen voller Leichtigkeit wünscht. Ein Bild, das auch in den römischen Cinecittà-Studios zu Fellinis Zeiten hätte entstehen können. Es sind Momente wie dieser, die einen wohlig in die heimische Couch sinken und beruhigt denken lassen: Ja, das ist mein „Matilda“, wie ich es im Londoner Cambridge Theatre lieben gelernt habe, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise.
In der Verfilmung ist alles drin, was hineingehört: die Vernachlässigung eines bedauernswerten Kindes durch die Eltern, die informellen Kreativtreffen mit der Bibliothekarin Mrs. Phelps, die Tapferkeit eines unerschütterlich an sich glaubenden Mädchens, das sich nie in Selbstmitleid verliert, das revolutionäre Aufbegehren der unterdrückten Kinder gegen eine Tyrannenherrschaft. Und natürlich auch die herzerweichende Beziehung zwischen Miss Honey und Matilda – die eine auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, die andere auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit in einer Familie. Regisseur Matthew Warchus hat all diese Ingredienzien mit behutsamer Hand neu angeordnet, in einen anderen Fluss gebracht und teilweise auch neu betrachtet. Diese „Matilda“-Verfilmung ist weit davon entfernt, eine Eins-zu-eins-Umsetzung des Bühnenwerkes zu sein. Sie ist frisch, unverbraucht, unterhaltsam und durch und durch eigenständig.
In der Rolle von Miss Honey ist Lashana Lynch zu sehen, die sich im letzten Daniel-Craig-Bond-Film als Agentin von ihrer Action-Seite zeigen konnte. Als Miss Honey darf sie sich ungleich nachdenklicher und gefühlsbetonter zeigen, was ihr über alle Maßen und sehr überzeugend gelingt. In der deutschen Fassung wird die Rolle von Sabrina Weckerlin gesprochen und gesungen, im Übrigen in einer solch hervorragenden Qualität, wie man sie bei derlei Eindeutschungen von Musicalfilmen nur selten zu hören bekommt. Allem Anschein nach wurde diesem Teil der Produktion ein entsprechend großer Stellenwert eingeräumt. Alisha Weir in der Titelrolle ist einfach großartig. Die dreizehnjährige Irin meistert ihren anspruchsvollen Part mit einnehmendem Charme, beeindruckender Ernsthaftigkeit – wozu auch ein leinwandfüllender böser Horror-Blick gehört – und mit einer gleichsam entspannten Leichtigkeit. Wie immer bei „Matilda“ hat man auch für den Film ein Mädchen aus dem Hut gezaubert, das sein Publikum im Sturm zu erobern vermag.
Es ist aber nicht nur dem tollen Spiel von Alisha Weir und Lashana Lynch zu verdanken, dass einem das Herz aufgeht, wenn sich Matilda und Miss Honey endlich gefunden haben. Hierfür sorgt auch ein neuer Song von Komponist Tim Minchin, der für das Ende des Films eine eingängige Midtempo-Nummer geschrieben hat, die sich überaus stimmig in das musikalische Bestandsmaterial einfügt und die passende Musik für die übergroßen Bilder im Finale liefert. Die Bühnenshow endet mit einem gemeinsamen Radschlag von Matilda und Miss Honey, der eine gemeinsame und glücklichere Zukunft einläutet. Ein zartes und verspieltes Ausrufezeichen am Ende einer bezaubernden Show. Der Film geht einen Schritt weiter und zeigt, wie sich die ehemalige Schreckensschule unter der Leitung von Miss Honey zu einem menschlichen und freundlichen Ort entwickelt. Der Radschlag wird im Film nur eher beiläufig zitiert, hier endet es mit einem überbordenden Finale mit Giraffe (wer genau hinsieht, wird während der Schreckensherrschaft von Miss Trunchbull den Schriftzug „No Giraffes“ auf einem der vielen Verbotsschilder auf dem Schulrasen entdecken), Jahrmarkt und kunterbunten Heißluftballons am endlosen blauen Himmel. Das ist genauso verspielt, aber eben nicht mehr zart, sondern mächtig und riesengroß. Ebenso konsequent, wie die Bühnenfassung sämtliche Register des Theaterspiels zieht, nutzt die Verfilmung das vollständige Instrumentarium des visuellen Mediums in seiner ganzen Breite.
Die Verfilmung des „Matilda“-Musicals ist auf eine erfreuliche Art sehr gut gelungen, wenngleich sie in ihrer subversiven Schärfe nicht ganz an das zugrundeliegende Bühnenwerk heranreicht. Der Unterschied liegt einfach darin, dass das Bühnenwerk in vielerlei Hinsicht ein brillantes Bühnenwerk, der Film hingegen aber ein „nur“ sehr guter Film ist.
Bericht | Galerie | ||||||||
GALERIE |
---|