Aisata Blackman (Diana Goodman), Philipp Büttner (Gabriel Goodman), Judith Caspari (Nathalie Goodman), Tom Schimon (Henry) © Thomas Müller
Aisata Blackman (Diana Goodman), Philipp Büttner (Gabriel Goodman), Judith Caspari (Nathalie Goodman), Tom Schimon (Henry) © Thomas Müller

Next to Normal (Fast normal) (2022 - 2023)
Staatstheater, Kassel

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

Psychische Erkrankungen, Traumata und toxische Co-Abhängigkeit: Nicht gerade die klassischen, für ein fast normales 08/15-Musical-Publikum zugänglichen Themen, die bei „Next to normal (Fast normal)“ auf der Bühne ausgespielt werden. Kein einfaches Projekt, das jedoch vor allem durch den grandiosen Cast und ein eindrucksvolles Bühnenbild (fast) uneingeschränkt überzeugen kann.

Das mit drei Tony-Awards und – als eines von sehr wenigen Musicals – mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Musical aus der Feder von Brian Yorkey und Tom Kitt erzählt von der vierköpfigen Familie Goodman, die mit der bipolaren Störung der Mutter Diana und den damit einhergehenden zwischenmenschlichen Problemen zu kämpfen hat.

Die Kasseler Inszenierung unter der Regie von Philipp Rosendahl besticht durch ein außergewöhnliches Bühnenbild, das für die Stimmung des Stücks und das Zusammenspiel der Darsteller integral ist: Ein acht Meter hohes Gerüst mit zwölf begehbaren, sechseckigen Waben stellt in der Optik eines Bienenstock-Querschnitts das Haus der Goodmans mit verschiedenen Zimmern sowie die Musikschule der Tochter Natalie und die Praxen der beiden Psychiater Dr. Fine und Dr. Madden dar. Brillant daran ist, dass die Darsteller sich niemals gleichzeitig im selben „Raum“ aufhalten, sondern komplett isoliert voneinander stehen und doch miteinander agieren. Das ist so effektvoll, dass mit Heben des Vorhangs sofort eine bedrückende Erzählstimmung entsteht, die die Figuren als Teil der Familie und doch mit ihren Sorgen und Ängsten komplett allein zeichnet. Wie Bienen wirren die vier Protagonisten durch die mit Klappen und Leitern miteinander verbundenen labyrinthartigen Wabenräume auf der Suche nach sich, ihren Lieben und der Lösung ihrer Probleme. Dabei werden die einzelnen Räume mal beleuchtet und mal komplett im Schatten gelassen, mal farblich je nach gerade im Fokus stehender Figur differenziert ausgeleuchtet oder chaotisch flackernd und blinkend eingestellt. Dadurch gelingt es, Dialoge über abgetrennte Räume hinweg zu illustrieren, Flashbacks zu inszenieren, parallele Handlungsstränge voneinander abzutrennen und emotionale Lagen einzelner Figuren zu unterstreichen.

Licht und Bühne greifen perfekt ineinander und gehen eine eindrucksvolle Symbiose mit den Darstellern ein. Dass eben jene Bühne im zweiten Akt verschwindet und ein offener, leerer und düsterer Raum entsteht, in dem die Darsteller das erste Mal direkt miteinander interagieren, ist genauso effektvoll. Eröffnet wird der zweite Akt mit einem verstörenden Bild: Ein Bett mit mehreren von der Decke hängenden Kabeln in einem großen, komplett dunklen Raum setzt die Stimmung für die zweite Hälfte des Stücks und bleibt nachhaltig im Gedächtnis.

Die wenigen Requisiten werden besonders eindrücklich genutzt, gehen dieselbe Symbiose mit Bühne, Licht und Darstellern ein und sind dabei fast an einer Hand abzuzählen – Toastscheiben, die Diana manisch während eines Anfalls belegt und in der ganzen Wabe an den Wänden verteilt. Eine Spieluhr mit einer Tänzerin als zentrales Objekt der Erinnerung an ihren Sohn. Über die Bühne wie Schnee fallende Tabletten, die von Diana in einer Kurzschlussreaktion entsorgt werden. Ein kleines hochklappbares Pult, das Natalies Rückzugsort im Musikraum zeigt. Zwei Teller und ein Becher, den Diana in einem Wutanfall zerschmettert. Jedes Requisit liefert ein gefühlvolles und handlungstragendes Bild.

Das wohl bemerkenswerteste ist dabei ein Kostüm, das Sohn Gabe im späteren Verlauf der Handlung immer wieder trägt: ein schneeweißes Kleid, das die Tänzerin der Spieluhr mimt und die Erinnerungen an den Sohn mit der physischen Figur verbindet. Es ist modern, genderaffirmativ und schick anzusehen und sticht aus den sonst wenig auffälligen Kostümen heraus. Zudem verfärbt es sich in einer der bedrückendsten Szenen des Stückes langsam rot, was mit einem Mal die Stimmung des Stückes verdüstert und auf den zweiten Akt vorbereitet, in dem der Sohn mit blutbeschmiertem Kleid weitere eindrückliche Auftritte hat.

Das Zusammenspiel von Regie, Bühne, Requisit und Licht wird durch den hervorragenden Cast getragen. Aisata Blackman als Diana Goodman verkörpert die psychisch kranke Familienmutter komplett ohne eine Art von Overacting, die sich in den Rollen von „wahnsinnigen“ Figuren oft verführerisch anzubieten scheint. Sie gibt ihrem Charakter das, wonach die gesamte Familie sucht, nämlich eine „Normalität“ in ihrer Krankheit. Durch diese Auslegung der Figur werden einige Szenen besonders schmerzlich – und die tatsächlichen Gefühlsausbrüche Dianas zum Beispiel in „Mir fehlen die Berge“ oder im Zusammenspiel mit ihrem Sohn in „Tanz ich im Traum“ und ihrer Tochter in „Fast normal“ umso dramatischer. Die Rolle als Dreh- und Angelpunkt der Familie und des gesamten Stücks füllt Blackman souverän aus und verleiht dem emotional und stimmlich anspruchsvollen Part Wärme und Kälte zugleich.

Judith Caspari als Tochter Natalie beweist schauspielerische Tiefe, Nuanciertheit und Differenziertheit, die imponieren. Ihr Zusammenspiel mit Aisata Blackman am Ende des Stückes gehört zu den emotionalsten Momenten der Inszenierung. Auch ihre Bühnenchemie mit Timothy Roller, der Natalies unerschütterlich loyalen Verehrer Henry überzeugend spielt, ist vielschichtig und ergreifend. Die Präsenz ihres Bruders und ihre eigenen Gefühle der Minderwertigkeit besingt sie bewegend in „Superboy und seine Schwester aus Glas“.

Philipp Büttner als Gabe hat die schwierige Rolle, eine Figur am Rande der Familie zu verkörpern, die in Wirklichkeit nur in den Köpfen der Mutter und des Vaters existiert. Dies gibt ihm auf der anderen Seite viele spielerische Freiheiten, die er mühelos vollführt. So singt er kletternd und kopfüber als vermeintlich unbeschwerter Sohn, spiegelt die am EKT-Gerät angeschlossene Mutter als Reflexion ihrer selbst, gibt die Tänzerin als Projektion ihrer Sohnes in Dianas Fantasie und ist zudem ein melancholischer Todesengel, der seine Mutter in Liedern wie „Komm mit mir“ zu sich in den Suizid locken zu wollen scheint.

Andreas Wolfram in der Doppelrolle der Psychiater Dr. Fine und Dr. Madden brilliert durch komödiantische Elemente, die sich mit erschreckend ernstem und abgebrühtem Ärzte-Habitus abwechseln. Durch seine Bühnenpräsenz zieht er die Aufmerksamkeit der anderen Figuren und des Publikums auf sich, was seine Rolle als Schlüsselfigur in Dianas Entwicklung unterstreicht.

Alexander Di Capri als Vater Dan setzt seine Figur in eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die er vor allem in den traurig-verzweifelten Facetten überzeugend darstellt. Insgesamt scheint er noch nicht in der Rolle gänzlich angekommen zu sein – einige Textunsicherheiten und Timing-Probleme bei Songs wirken ablenkend und erlauben es erst relativ spät im Stück, eine emotionale Bindung zu dieser Figur aufzubauen. Im zweiten Akt gelingt dies, auch durch das nunmehr direkte Spiel der Darsteller miteinander, deutlich besser. Das, was Aisata Blackman mit erstaunlichem Under-Acting erreicht, bietet Di Capris im zweiten Akt an gefühlsüberladenem Overacting. Ob dies gewollt ist oder nicht: Es passt sehr gut in die Handlung und illustriert die sich verändernde Dynamik des Ehepaars und ihre sich voneinander entfernenden Leben. Insgesamt ist der hochkarätig besetzte Cast virtuos in der Gesangstechnik und verleiht der Musik von Tom Kitt die gebührende Bandbreite.

Das nur mit acht Musikern besetzte Orchester klingt trotz souveränem Spielens an sich schon recht dünn, die Soundtechnik macht es aber leider noch leiser. Nicht nur die Abmischung des Orchesters erlaubt keinen vollen Klang, auch die Darsteller gehen oft im Ton unter. Die Sprechszenen sind bedauerlicherweise die einzigen im gesamten Stück, die gut verständlich sind. Philipp Büttner und Judith Caspari können diesen Nachteil durch ihr großes Stimmvolumen ausgleichen, den anderen Darstellern gelingt dies in den leiseren Gesangsparts oft nicht, ohne aus der Emotionalität der Lieder aussteigen zu müssen. Nicht nur die Austarierung des Tons stimmt oftmals nicht: Es werden immer wieder Mikrofone zu spät angeschaltet und – schlimmer noch – nicht wieder ausgeschaltet, was sehr unangenehme und private Geräusche von Backstage vor die Bühne bringt. Viele sehr positive Eindrücke werden durch die miserable Tontechnik getrübt.

„Next to normal“ in Kassel liefert einen Musicalabend, der vor allem durch das Bühnenbild und den Cast im Gedächtnis bleiben wird und zum Nachdenken anregt.

 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
KREATIVTEAM
MusikTom Kitt
Buch und GesangstexteBrian Yorkey
ÜbersetzungTitus Hoffmann
Musikalische LeitungPeter Schedding
Donato Deliano
InszenierungPhilipp Rosendahl
AusstattungBrigitte Schima
ChoreografieConstantin Hochkeppel
DramaturgieFelix Linsmeier
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
CAST (AKTUELL)
Diana GoodmanAisata Blackman
Dan GoodmanAlexander Di Capri
Gabriel GoodmanPhilipp Büttner
Natalie GoodmanJudith Caspari
HenryTimothy Roller
Tom Schimon
Dr. Fine / Dr. MaddenAndreas Wolfram
  
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
TERMINE
keine aktuellen Termine
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
TERMINE (HISTORY)
Sa, 16.01.2021 19:30Staatstheater, Kasselabgesagt
Sa, 23.01.2021 19:30Staatstheater, Kasselabgesagt
Do, 11.02.2021 19:30Staatstheater, Kasselabgesagt
▼ 28 weitere Termine einblenden (bis 07.07.2023) ▼
Zur Zeit steht die Funktion 'Leserbewertung' noch nicht (wieder) zur Verfügung. Wir arbeiten daran, dass das bald wieder möglich wird.
Overlay