Künstlerischer Anspruch und kurzweilige Unterhaltung finden leider nicht oft zusammen. Dass der nicht eben einfache Spagat zwischen Intellektualität und Spannung trotzdem eindrucksvoll gelingen kann, beweisen wieder einmal Michael Bellmann, Jürgen Ferber und Joerg Steve Mohr mit ihrem neuesten Werk „Verbotene Früchte“.
„Ich möchte auch ficken. Ich möchte dich ficken. Jetzt! Hier!“ In diesem Moment befindet sich Friedrich längst im Sog der Nacht, die ungeahnte und absonderliche Abenteuer für ihn bereithält. Die Orgie einer geheimen Gesellschaft ist eine der Schlüsselszenen von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, die Michael Bellmann (Musik und Lyrics), Jürgen Ferber (Lyrics) und Joerg Steve Mohr (Buch und Regie) nun für die Musicalbühne adaptiert haben. Wie schon bei „Hinter dem Spiegel“, das Pädophilie thematisierte und „Der Duft der Kastanie“, bei dem sich das Autorentrio mit dem Thema Freitod auseinandersetzte, schürfen sie auch mit ihrem neuen Werk wieder tief in der menschlichen Psyche – für Pille-Palle-Themen sind diese Musicalmacher nicht zu haben.
Dabei standen sie vor der nicht einfachen Aufgabe, den Stoff in das Hier und Jetzt zu übertragen – ein Transfer, der etwa Stanley Kubrick mit seiner Verfilmung „Eyes Wide Shut“ nicht mit letzter Konsequenz gelungen ist. Das bereits im Jahr 1925 erstveröffentlichte Werk ist tief eingebettet in die zeitgenössischen Moralvorstellungen seiner Entstehungszeit und inspiriert von Sigmund Freuds seinerzeit atemberaubend neuen Theorien über die Psychoanalyse. Damals war das freimütige Eingeständnis einer Ehefrau und Mutter, sich in sexuellen Fantasien und Sehnsüchten zu ergehen, eine schier unvorstellbare Ungeheuerlichkeit und Provokation, die bei Fridolin und Albertine – hier heißen sie nun Friedrich und Tine – extrem starke Reaktionen hervorzurufen vermochte. Das klug und wohldurchdacht geschriebene Buch zu „Verbotene Früchte“ lotet nun behutsam aus, was von dem erstarrten bürgerlichen Moralkodex von damals auch heute noch gilt und lässt diejenigen Aspekte außen vor, die keine gesellschaftliche Relevanz mehr haben. Im Ergebnis ist es den Autoren gelungen, eine unverändert reizvolle moderne Adaption des Stoffes auf die Bühne zu bringen.
Den Pulsschlag des Stückes bestimmt dabei die Musik von Komponist Michael Bellmann. Wie schon die Vorgängerwerke enthält auch „Verbotene Früchte“ wunderbares musikalisches Material. Zentrales Element ist ein Songzyklus rund um die Nacht, in der sich Friedrich nach dem markerschütternden Bericht seiner Frau verliert. Dramatische Nummern wie „Nachtfalter“ oder „Ewig Nacht“ vermitteln dabei furios und mitreißend die Gefühlswelt Friedrichs, die er während der nächtlichen Ereignisse durchlebt und die von Verstörung über Erregung bis hin zu brennender Neugier reicht. Daneben enthält die Partitur auch sofort ins Ohr gehende Nummern wie etwa „Alles in deiner Seele“ (wobei AIDS ein Akronym für den Songtitel ist), den man sich auch gut als geschmeidig-cool produzierten Popsong vorstellen kann. Dargeboten wird die Musik in dem 99-Plätze-Haus einzig mit Klavierbegleitung (einfühlsam und virtuos: Dmitrij Koscheew), wenngleich Kompositionen wie etwa der finale „Nacht“-Song auch jederzeit auf einer großen Musicalbühne mit großer Orchestrierung funktionieren würden. Auch formal überzeugt die Musik, denn Bellmann verwendet für die nächtlichen Ereignisse, im Laufe derer Friedrich auf viele Figuren unter jeweils anderen Voraussetzungen zweimal trifft, Leitmotive und variiert diese geschickt. Ebenso einfallsreich präsentieren sich die Lyrics, die mit überaus sorgfältiger Hand gereimt sind und gekonnt die heutige Sprache aufgreifen: „Tine vögelt fremd, Reue zeigt sie kaum. Macht sie’s auch in echt, macht sie’s nur im Traum?“
Regisseur Joerg Steve Mohr stellt mit sicherer und pointierter Hand heraus, dass die Charaktere, denen Friedrich begegnet, keine realen Personen sind, sondern vielmehr Projektionen seiner aufgewühlten Seele. Zusehends lässt die Inszenierung die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen. An einer Stelle, an der Friedrich selbst nicht mehr weiß, ob er die vergangene Nacht tatsächlich erlebt oder nur geträumt hat, lässt Mohr den Bühnenabbau einer Szene sichtbar werden und suggeriert hiermit die Demontage eines vermeintlichen Traumbildes – eine furchteinflößende Verstörung für Friedrichs Wahrnehmung. Durch dieses bizarre Spiel mit immer neuen surrealen Vorkommnissen nimmt er den Zuschauer mit auf eine fesselnde Reise durch Friedrichs Unterbewusstsein, das erst am Ende durch den erlangten Erkenntnisgewinn seine Erlösung findet. Dass Mohr hieraus kein plumpes Happy End konstruiert, sondern vielmehr nah an der nur wenig Zukunftsglück verheißenden Vorlage bleibt, spricht für die künstlerische Ambition dieser Produktion.
„Verbotene Früchte“ ist als 2-Personen-Stück angelegt, nur streckenweise kommen Statisten zum Einsatz, die vor allem während der Orgie viel nackte Haut zeigen. Sämtliche Rollen mit Ausnahme des Friedrich werden von der Tine-Darstellerin gespielt. Dabei präsentiert sich Julia Anna Friess sowohl gesanglich als auch darstellerisch mit beeindruckender Wandlungsfähigkeit, während Marc Trojan den durch die Nacht irrlichternden Friedrich mit fester kräftiger Stimme und intensivem Spiel gibt. Beide Darsteller erweisen sich als Glücksfall für diese Produktion.
Eigentlich stellt diese Musical-Uraufführung all das dar, was man sich seitens der Branche oder auch des Fachpublikums so oft wünscht: ein anspruchsvoller Stoff, fabelhafte Musik und eine Inszenierung, die nicht nach dem Massengeschmack schielt. Insofern müssten gerade staatliche Theater den Machern dieses Werk geradezu aus den Händen reißen. Es bleibt daher abzuwarten, ob „Verbotene Früchte“ öfters nachgespielt wird als seine Vorgängerwerke. Das Anschauen in Schwetzingen indes lohnt sich unbedingt.
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