Oliver! (2007 - 2008)
Stadttheater, Gießen

Mit durchwachsenen Darstellerleistungen und einer konturlosen Inszenierung kann Lionel Barts Musical nach Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ am Gießener Stadttheater nicht überzeugen. Der Star der Produktion ist der temperamentvolle Kinderchor, auch die Ausstattung kann sich sehen lassen.

Was der Inszenierung von Regisseurin Anette Leistenschneider an vielen Stellen fehlt, sind Tempo und Stringenz. Eigentlich lustige Szenen verlieren schnell an Komik, weil Anschlüsse viel zu langsam kommen; übertriebene Gestik und Posen füllen diese Pausen, wirken aber eher peinlich als lustig. Wenn Mr. Bumble (Hartmut Stroth) beispielsweise mit der Armenhausleiterin Mrs. Corney (Petra Soltau) anbändelt, ist das eigentlich große Komödie – hier aber werden die Pointen entweder überspielt oder viel zu lange ausgekostet. Noch dazu brechen die beiden – offenbar wegen Soltaus fehlender gesanglicher Fähigkeiten – den Song „Ich werd‘ schreien“ sehr schnell ab. Auf ähnliche Weise werden viele der Schauspielszenen verschenkt; hier hätte Leistenschneider konsequenter arbeiten müssen.
Interessanterweise profitiert das Bühnengeschehen immer dann, wenn die Profis durch Amateure unterstützt werden: Die Szenen, in denen der 35-köpfige Kinder- und Jugendchor des Stadttheaters auf der Bühne steht, machen die Höhepunkte des Stücks aus. Die Mädchen und Jungen singen (Chorleitung: Martin Gärtner) und tanzen mit großer Begeisterung und auf sehr hohem Niveau. Ihre Choreografien (Tarek Assam) sind einfach, aber wundervoll anzuschauen. In ihrer Mitte beeindruckt Uwe Schönbeck, der den Hehler Fagin ein wenig zu sympathisch und zu sehr als Vaterfigur anlegt, mit nuancierter Stimme und Gestik aber trotzdem der beste der „erwachsenen“ Darsteller ist.
Gesanglich stark präsentieren sich darüber hinaus Henrietta Hugenholtz als Nancy, Tomi Wendt als Artful Dodger und Matthias Ludwig als (viel zu harmloser) Bill Sikes – aber auch ihnen hätte man mit konsequenterer Personenführung einen Gefallen getan. Sicher können die Charaktere in Lionel Barts Bearbeitung des Stoffes nicht genauso detailliert gezeichnet werden, wie es Dickens in seinem Roman tut. Wenn aber, wie hier, zusätzlich empfindliche Dialogkürzungen vorgenommen werden, wird eine Identifizierung des Publikums mit Nancy, Oliver und den anderen geradezu unmöglich. A propos Oliver: Der junge Robert Schmidt spielt die Titelfigur mit zarter Zurückhaltung und großer Glaubwürdigkeit. Sein Solo „Wer liebt mich“ ist gesanglich erstaunlich gut und in seiner Schlichtheit besonders eindrucksvoll.
Ideenlosigkeit bei der Ausstattung kann man dem „Oliver!“-Team nicht vorwerfen: Die Kostüme (Bernhard Niechotz) im Stil des vorletzten Jahrhunderts sind etwas zu „farbfrisch“ und sauber, um völlig authentisch zu sein, aber immer schön anzusehen und mit viel Liebe zum Detail gestaltet. Wenn in Fagins Quartier dutzende bunte Taschentücher in allen Größen an Wäscheleinen die Bühne überspannen oder im Hause Brownlow das Porträt von Olivers verstorbener Mutter überdimensional von einem drehbaren Bühnenwagen lächelt, dann deutet Bühnendesigner Lukas Noll mit einfachen Mitteln, aber sehr wirkungsvoll die Orte des Geschehens an.
Insgesamt lohnt ein Besuch in Gießen jedoch höchstens wegen des tollen Kinder- und Jugendchors. Wer großes Musiktheater sehen will, sollte sich andere Produktionen aussuchen.