Antonia-Luise Wetzlar (Carrie), Ensemble © Hasret Sahin
Antonia-Luise Wetzlar (Carrie), Ensemble © Hasret Sahin

Carrie (2024)
Waggonhalle, Marburg

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Das selten gespielte Musical „Carrie“, das für seine Zunft einen außergewöhnlichen Mix aus Thriller, Horror und typischen Highschool Musicals darstellt, wird in der Marburger Waggonhalle aktuell an einem für die Stimmung des Stücks sehr passenden Setting dargeboten. Das semiprofessionelle Ensemble zeigt in der weitestgehend gelungenen Inszenierung beeindruckend die Tiefen der menschlichen Psyche auf.

Das auf Stephen Kings Debütroman und den darauffolgenden bekannten Verfilmungen beruhende Musical mit dem starken und kohärenten Buch von Lawrence D. Cohen folgt zum Großteil der Originalhandlung und wird durch Michael Gores teils rockige, teils dramatisch angehauchte Songs, die nahezu allesamt der Charakterisierung der Figuren dienen, gewinnbringend erweitert. Obgleich Dean Pitchfords nuancenhafte Original-Songtexte in der Übersetzung von Martin Wessels-Behrens und Judith Behrens etwas an Strahlkraft verlieren, geben sie auch auf Deutsch passende Bilder und die benötigte Szenenstimmung gut wieder. Die Voraussetzungen für ein gelungenes Musical sind also für Marburg durchaus gegeben, und Martin Schmidts Regie nimmt alles Material dankbar auf.

Im Großen und Ganzen gelingt Schmidt die Konzeption eines durchgängig spannenden und feinfühlig fokussierten Bühnenstücks mit rotem Faden und gut austarierter Dramaturgie. Optisch werden die Charaktere treffend durch Vanessa Sobels Kostümbild eingekleidet. Thomas Dölls Bühnenbild hilft durch minimalistische, klare Szenenbilder, den Fokus der Geschichte zu lenken. So ist das Haus der Whites auf zwei Ebenen im Zentrum der Bühne angedeutet: Oben befindet sich das Nähzimmer der Mutter szenenweise abgewechselt mit dem Kinderzimmer von Carrie, unten der christliche Gebetsaltar. Dieser wird in den Schulszenen durch eine Wandfolie abgedeckt und mittels Sitzbänke in einen Klassenraum oder Flur umfunktioniert. Sehr simpel und doch vollkommen ausreichend für das düstere Stück, das ohnehin gut ohne Opulenz auskommt. Generell ist ein großer Pluspunkt dieser Inszenierung die nahtlos in den Sitzbereich des Publikums übergehende Bühne, die vom Ensemble komplett genutzt wird. So entstehen zahlreiche wirklich eindrucksvoll bedrückende Momente durch die schiere Nähe der Akteure zu den Zuschauern, die in der Katastrophe am Ende kulminieren und für Gänsehaut sorgen, wenn beispielsweise die eingesperrten Schüler panisch durch den Saal rennen und nacheinander von Carrie dahingemetzelt werden.

Was das Stück in Marburg aber leider gehörig an Momentum einbüßen lässt, sind die langen, zum Teil sichtlich hektischen oder unbeholfenen Umbauepisoden, die trotz des sehr reduzierten Bühnenbildes unangenehme Längen erzeugen – diese hätte man vielleicht durch das Spielen von Vamps aus dem Score des Musicals übertönen oder den Umbau flüssiger in die Folgeszenen integrieren können. Die Lichttechnik wird zum Großteil dramatisch effektvoll eingesetzt – rotes Licht unterstreicht die bedrückende und bedrohliche Stimmung im Hause White und stroboskopische Blitzeffekte mimen Carries Einsatz telekinetischer Kräfte, was für das nötige Thriller-Horror-Feeling durchaus angebracht wirkt. So ganz austariert scheint das Lichtdesign aber noch nicht zu sein, da nicht selten Lichteinsätze, Fehlzündungen gleich, ins Nichts verlaufen.

Die auf mehrere Bühnenecken verteilte Band unter Alexander Friedrich Melniks virtuoser Leitung vertönt die sehr wechselhaften Melodien mit wunderbarer Tiefe und Kraft. Leider ist die Band auch fast das einzige, was akustisch störungsfrei ins kleine Auditorium übertragen wird. Die Tontechnik ist am Premierenabend suboptimal: Fast alle Mikrofone sind so leise eingestellt, dass sie die Sprech- und Gesangsparts kaum verstärken und etliche Dialogpassagen in der Musik untergehen. Nicht selten scheinen Mikrofone auch gar nicht erst eingeschaltet zu sein. Zudem werden zahlreiche Soundeffekte, wie Türklingeln, Gewitter oder das makabere Knochenknacken von Carries Opfern nicht richtig im Timing eingesetzt. Ab und an gibt es zudem Übersteuerungen und Störgeräusche. 

Ein großer Pluspunkt dieser Inszenierung sind die intensiven und nuancierten Choreografien von Maik Eckhardt. Er versteht es, die wechselnden Stimmungen des Stücks in seinen tänzerischen Abläufen auszudrücken. Eindrucksvoll sind dabei vor allem die eher beklemmenden Szenen choreographiert, unter denen das Finale im Ballsaal besonders im Gedächtnis bleibt. Wie das Ensemble in den Rollen der SchülerInnen durch Carries Kräfte wie Marionetten zappeln und sie mit Körperkontraktionen die Qualen ihrer letzten Lebensmomente darstellen, ist großes Kino.

Das Ensemble büßt sein offensichtliches Potenzial durch den oftmals etwas zurückhaltenden Gesang, der in den mehrstimmigen Gruppenliedern auch nicht immer ganz sauber klingt, zum Glück nicht ein – denn im Schauspiel brilliert jeder Akteur auf der Bühne auf ganzer Linie. Besonders im Gedächtnis bleibt Emily Grunwald, die mit ihrer Bühnenpräsenz ihrer kleinen Figur Frieda so viel mehr Leben einhaucht, als es das Buch hergibt. Die Riege der Hauptdarsteller bringt durchweg solide Gesangsleistungen mit und setzt in Sachen Schauspiel noch eine Schippe drauf. Besonders tun sich Jaline Horst als gehässig-antagonistische Chris und Sebastian Kilinger als der träumerische Tommy hervor, der mit differenziertem Schauspiel und hervorragender Artikulation auf Profiriege spielt. Tahira Schäfer gibt als Sue einen idealen, emotional ausgleichenden Gegenpart sowohl zu Kilingers Tommy als auch zu Wetzlars Carrie. Deren Mutter wird von Svenja Göbel in einem gekonnten Spagat aus liebevoll-besorgter Mutter, religiöser Fanatikerin und wahnhaft-traumatisierter Frau gegeben. Ihre Solo-Lieder wie „Wenn sie fort ist“ und Duette mit Antonia-Luise Wetzlar wie „Ihr Fleisch war schwach“, „Wie haben sie getanzt“ und „Bleib doch Zuhaus“ bilden die gesanglichen Highlights dieser Inszenierung. Wetzlar legt ihre Carrie bis zum Ende als sympathisches Mädchen und Opfer ihres Umfeldes aus, der selbst in der absoluten Eskalation das Mitgefühl und die Zugewandtheit der Zuschauer sicher ist. So kreiert sie ihre eigene Carrie, abseits der entrückten Film-Inkarnationen dieser Figur, die vor allem durch die Tragik ihrer Situation die Geschichte weiterträgt. Dabei ist Wetzlars klare Gesangsstimme, die auch in den Höhen nicht an Strahlkraft einbüßt, in den Liedern „Warum nicht?“ und „Carrie“ besonders hervorzuheben.

Allein der Mut des Vereins, immer wieder selten gespielte Stücke wie jetzt „Carrie“ auf den Spielplan zu setzen, bereichert die Musicalszene ungemein. Eine bereits jetzt sehens- und hörenswerte Inszenierung des Musicalthrillers ist hier entstanden, die mit ein wenig Feinschliff seitens der technischen Umsetzung uneingeschränkt mit dem Profiniveau mithalten kann.

 
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KREATIVTEAM
RegieMartin Schmidt
RegieassistenzDenise Theis
Musikalische LeitungAlexander Melnik
ChoreografieMaik Eckhardt
KostümeVanessa Sobel
BühnenbildThomas Döll
ProduktionsleitungPatrick Schauermann
Helga Niehaus
IntendanzMatze Schmidt
 
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CAST (AKTUELL)
Carrie WhiteNele Schüssler
Antonia-Luise Wetzlar
Margaret WhiteSvenja Göbel
Franziska Ritz
Mrs. GardnerAngela di Martino
Annika Schmidt
Sue SnellRebecca Kaufmann
Tahira Schäfer
Chris HargensenSteffi Brummund
Jaline Horst
Tommy RossAndreas Kochseder
Billy NolanSamir al Heteilah
Sebastian Killinger
Mr. Stephens, Referent, BlissFlo Lang
EnsembleHannah Kirsch
Helena Lindemann
Anna Brattig
Emily Grunwald
Oliver Gassmann
Maik Eckhardt
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Mi, 07.08.2024 19:30Waggonhalle, MarburgPremiere
Do, 08.08.2024 20:00Waggonhalle, Marburg
Fr, 09.08.2024 20:00Waggonhalle, Marburg
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