„Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie?“ – Diese und viele andere integrale gesellschaftliche Fragen stellt die unbequeme „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill diesen Sommer auch in der Stiftsruine Bad Hersfeld, wo das Werk zwischen Operette, Schauspiel und frühem Musical auf einer übergroßen Freilichtbühne inszeniert wird. Die Leistung ist von allen Seiten durchweg solide, allerdings noch ohne großen Wow-Effekt.
Auf der vor allem durch ihre Tiefe einzigartigen Bühne präsentiert Volker Hintermeier ein anschauliches Bild: Zentral prangt der Schriftzug „Sinner’s Inn“ vielsagend über der Handlung. Von der tiefen Bühnenhinterseite wird ein beleuchteter Vollmond auf Schienen nach vorne gefahren und unterstützt so nächtliche Szenen und scheint auch als Symbol in angespannten Momenten des Stückes nach dem Motto ‚Der Mond stürzt auf die Erde‘ prominent genutzt zu werden. Mit Blick auf die Bühne befindet sich rechter Hand ein gerüstartig aufgebautes Freudenhaus, in dem einige Szenen um die Prostituierte Jenny stattfinden. Daneben sind anscheinend wahllos kombinierte chinesische Schriftzeichen an das Gerüst angebracht, die einer Hausreklame ähnlich beleuchtet sind, vermutlich um eine gewisse Exotik und Exklusivität ins Bordellmilieu Londons zu bringen oder anzudeuten, dass die Szenen in China Town, einem Teil des zentralen Handlungsortes Soho, spielen. Von Zuschauerseite links sitzt die neunköpfige Band in einem verranzten Mini-Wohnwagen, geschmückt mit Hippie- und Rocker-Kleinoden und dem Foto von Queen Elizabeth. Die passend gekleidete, stets virtuos und schnörkellos spielende Band unter der Leitung von Lukas Mario Maier ist somit als Akteur mit auf der Bühne und nimmt am Geschehen auf ihre Weise aktiv teil.
Die anarchistische Grundstimmung des Stücks wird auch durch das Kostümbild auf das Ensemble übertragen. Irgendwo zwischen Rocker, Hippie, Straßenköter, Jogginganzug und Bordsteinschwalbe sind die Akteure gekleidet und fügen sich so in das Stück, das visuell etwas in die moderneren Jahrzehnte gebracht wurde, schön ein. Einzig die Peachums und zeitweise Macheaths stechen optisch durch gestriegelte Kostüme hervor, was der gesellschaftlichen Rolle der Figuren, oder vielmehr ihren Ambitionen in der Welt, visuell Rechnung trägt.
Die Choreographien von Daniela Mühlbauer erzeugen vor allem am Anfang des ersten Aktes in den Liedern „Die Seeräuber-Jenny“ und „Kanonensong“ starke Momente, die dynamisch, witzig und eindrucksvoll zugleich daher kommen. Das Lichtdesign von Volker Hintermeier ist zu jedem Zeitpunkt stimmig, wenngleich recht simpel, und das Sounddesign von Joerg Gruensfelder ist durchweg angenehm – zuweilen etwas leise, aber insgesamt sauber abgemischt, was erfreulich ist. Die Inszenierung von Michael Schachermaier kommt insgesamt im Schwall der „Dreigroschenoper“-Inszenierungen als durchaus solide daher. Neben dem kleinen Plot-Twist am Ende, bei dem Macheaths homosexuelle Beziehung zum Polizisten Tiger Brown angedeutet wird, bringt die Regie aber nichts bisher Ungesehenes auf die Bühne. Damit fährt die Inszenierung in Bad Hersfeld auch gut; sie kann sich nur nicht sonderlich abheben und versinkt daher etwas im guten Mittelmaß.
Das große Ensemble gefällt vor allem beim Opener, bei dem alle zu „Mackie Messer“ in einer Up-Tempo-Version singen. Auch bei den angedeuteten Demonstrationen der Obdach- und Mittellosen zur Krönung der britischen Königin überzeugt das große Ensemble visuell.
Als Ehepaar Peachum stehen Götz Schulte und Katharina Pichler auf der Bühne. Während sie als Ehepaar, wahrscheinlich gewollt, keine sonderliche Chemie versprühen, glänzen sie in ihren solistischen Momenten. Schulte gibt überzeugendes, oftmals als Understatement angelegtes Schauspiel, so auch in seinem Lied „Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ zum Besten, während Pichler mit „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ ihren großen Solo-Moment in Marlene-Dietrich-Manier zelebriert. Gioia Osthoff als Polly legt ihre Figur protzig und rotzig an, was durchaus gefällt. Ihre gefühlvolleren Facetten kann sie in den Liedern „Barbarasong“ und „Melodram“ im Duett mit Mackie-Darsteller Simon Zigah zeigen. Jenny wird in dieser Inszenierung von Anna Loos gegeben. Gesanglich kann sie beim Opener des zweiten Aktes „Salomonsong“ überzeugen. Laura Dittmann als verschmähte Exfreundin Lucy hat mit „Eifersuchtsduett“ einen starken Auftritt. Auch Oliver Urbanski, der den Polizeidirektor Tiger Brown spielt, trumpft mit schöner Gesangsstimme auf und beweist die größte darstellerische Bühnenenergie der Vorstellung.
Simon Zigah führt als flamboyanter Hauptdarsteller Mackie Messer überzeugend durch die Geschichte, besticht durch ausdrucksstarkes Schauspiel und eine Larger-Than-Life-Persönlichkeit, die im Kerker angekettet mit „Ballade vom angenehmen Leben“ ihren größten Moment, sowohl stimmlich, als auch darstellerisch und visuell, begeht. Im Zusammenspiel mit den Gangstern Münzmatthias (Simon Jaritz-Rudle), Sägerobert (Enrico Riethmüller), Hakenfingerjakob (Andrés Mendez), Trauerweidenwalter (Raphael Kübler) und Jimmy (Uriel Jung) entwickelt sich eine besonders unterhaltsame Bühnenchemie mit Zigahs Macheath, was dem zuweilen recht dahinplätschernden Stück immer wieder lustige Aufweckmomente verleiht.
Insgesamt bleibt der gesangliche Aspekt in dieser Inszenierung deutlich hinter dem Schauspiel zurück, was vollkommen legitim ist, aber den eigentlich schmissigen Melodien von Kurt Weill nur selten Rechnung trägt. Dass es in dieser Inszenierung keinen Moritatensänger gibt, sondern das gesamte Ensemble als Präsentatoren der allegorischen Geschichte auftritt, ist ein schöner Einfall – so öffnen und schließen alle gemeinsam die Bad Hersfelder „Dreigroschenoper“. Wer ohnehin in der Gegend ist oder sich zum Beispiel in Hersfeld das von Melissa King mit grandiosen Choreographien versehene „A Chorus Line“ anschaut, der kann mit einem zusätzlichen Abstecher in Brechts Soho-London nichts falsch machen, auch wenn man für das Stück natürlich mehr als drei Groschen hinblättern muss.
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