Popcorn steht bereit und der MUZ-Film & -Serienabend kann beginnen.
Popcorn steht bereit und der MUZ-Film & -Serienabend kann beginnen.

Crazy Ex-Girlfriend
Musical-TV-Serie / 2015-2019

Die US-amerikanische Dramedy-Serie „Crazy Ex-Girlfriend“ ist ein wahrer Meilenstein für das Genre Musicalserien und der MUZ-Streaming-Tipp für alle Musicalfans und TV-Serien-Junkies.

Musicalfilme kennen wir alle, aber Musicalserien sind doch vergleichsweise selten anzutreffen. Es ist natürlich ein beliebtes Stilmittel, in gut laufende Comedy- oder Fantasy- Serien einzelne dezidierte Musical-Episoden einzubauen, wie beispielsweise bei „Scrubs“, „Once Upon A Time“ oder gar „Chilling Adventures of Sabrina“. Musicalhaft vorgetragene einzelne Songs haben auch schon lange in Serien wie „The Simpsons“ oder „South Park“ einen besonderen Ulk-Effekt, nicht selten werden sie aber auch akzentuiert für emotionale Kulminationen genutzt, wie beispielsweise in diversen Folgen von „American Horror Story“ oder Ryan Murphys emotionaler LGBTQ-Serie „Pose“. Aber das macht aus diesen TV-Shows noch keine Musical-Serien. Da denkt man vielleicht eher an „Glee“, das wohl prominenteste Beispiel. Hier werden Songs meist performativ genutzt, da sich die Hauptfiguren in einem Gesangsclub an der High School befinden.

Dass Lieder in einer Serie durchgängig wie in einem ‚echten‘ Musical genutzt werden, um Charakterentwicklung oder das Innenleben der Figuren zu zeigen, ist in der Serie „Crazy Ex Girlfriend“ nahezu einzigartig. Und das ganze in vier Staffeln mit mehreren Songs pro Folge. Ein wahres Langzeit-Musical! Schade daher, dass dieser Musical-Meilenstein in Deutschland kaum bekannt ist.

Die New Yorker Anwältin Rebecca Bunch – leicht übergewichtig, nerdy und geplagt von diversen Minderwertigkeitskomplexen – ist in ihrem gut bezahlten Job todunglücklich. Durch einen Zufall trifft sie ihren ehemaligen Ferienlager-Crush Josh Chan auf der Straße wieder und ihre Welt dreht sich auf den Kopf. Völlig verblendet und manisch nach seiner Nähe suchend, bricht sie alle Zelte ab und zieht in ein heruntergekommenes Kaff auf der anderen Seite der Staaten – ins kalifornische West Covina, Joshs Wohnort. Und das Ganze, ohne dass Josh davon erfährt. Sie sucht sich einen neuen Job in einer kleinen Kanzlei und beginnt, Josh zu stalken. Blöd für sie, dass er längst an eine andere vergeben ist. Doch Rebecca kämpft nicht auf verlorenem Posten: Ihre ungesunden Impulse werden durch ihre neue Freundin und Arbeitskollegin Paula befeuert, die in der Lovestory eine willkommene Abwechslung zu ihrem eigenen tristen Familienleben sieht. Zusammen mit ihrer Nachbarin, der ‚woken‘ Ewigstudentin Heather, ihrem sexuell unentschlossenen Chef Daryl, dem misanthropen Bartender Greg, dem misogynen Macho Nathaniel und zahlreichen anderen schrägen Bewohnern von West Covina erlebt Rebecca die Seifenoper ihres Lebens – als imaginiertes Musical! Denn wer kennt es nicht, dass man sich in so mancher Situation schonmal selbst als Hauptfigur eines Films oder Theaterstücks vorgestellt hat. Bei Rebecca ist das Alltag, an dem sie uns teilhaben lässt – und alle ihre Bekannten und Freunde baut sie großzügig in ihr Musical ein, das sich einfach ‚Leben‘ nennen würde.

Der zunächst sehr klischeehafte und überzeichnet wirkende Plot mausert sich binnen einiger Episoden zu einer durchaus substantiellen Thematik: Jede Figur bringt sympathische Marotten mit, die auf eigenen traumatischen Erfahrungen beruhen. So werden viele gesellschaftlich relevante Themen wie Mobbing, Rassismus, Antisemitismus, Armut, Homo- und Transphobie und die fehlende soziale Gleichberechtigung der Frau immer wieder aufgegriffen. Das größte Augenmerk legt die Serie allerdings auf die zum Teil schonungslose, aber immer differenzierte Darstellung psychischer Störungsbilder. Jede der Hauptfiguren leidet – mal mehr, mal weniger offensichtlich – an Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Suizidgedanken oder Kindheitstraumata. Narzissmus, Depressionen, toxische Beziehungen zu Lebenspartnern sowie Eltern und Familie, soziale Phobie, ADHS, PTBS und Borderline – ein breites Spektrum von dysfunktionalen Lebensweisen und Problemen werden in die oberflächlich sehr heitere und unterhaltsame Geschichte eingebaut. Dabei werden die meisten der über 100 Lieder parodistisch genutzt und sind mit Klischees gefüllt: Sie parodieren nicht nur bestimmte charakterliche Elemente der Figuren oder Situationen innerhalb der Handlung, sondern auch das Genre Musical und klischeehafte Musikgenres. Je öfter man sich die Songs anhört, desto mehr merkt man die Komplexität und die Vielschichtigkeit der auf den ersten Blick einfach nur schrägen und lustigen Lieder. In den späteren Staffeln wird das Augenmerk immer mehr von der ‚Verrückten Ex-Freundin‘ Rebecca und ihrem Liebesbuhlen um Josh weg gelenkt und die Hauptfiguren werden in einen durchaus relevanten gesellschaftlichen Kontext mit all ihren Problemen, Ängsten und Fehlern gebettet – so kann man diese Serie neben ihrer Comedy- und Parodie-Elemente durchaus auch als Gesellschaftskritik und soziale Charakterstudie ansehen.

Im Lied „Sexy Getting Ready Song“ beispielsweise singt Rebecca davon, wie sie ihren Körper malträtiert,  um für die Männerwelt begehrenswert auszusehen – während sie sich mühevoll ihren Schambereich rasiert und sich danach ironisch-lasziv in der Badewanne räkelt. Rebeccas Psychologin beteuert ihr, dass Antidepressiva so ziemlich jeder Mensch trotz zum Teil schwerer Nebenwirkungen mal genommen hat in dem von „La La Land“-inspirierten Song „Antidepressants Are So Not a Big Deal“ und ihre Freundin Paula singt in einem folkloristisch klingenden Lied mit dem ironischen Titel „The Miracle of Birth“ von den ekeligen und qualvollen Seiten einer Geburt inklusive Post-Partum-Depression, während um sie herum feenhaft gekleidete Kinder tanzen. In „I Love My Daughter, But Not in a Creepy Way“ beteuert Daryl die nicht-sexuelle Liebe zu seiner Adoptivtochter, da ihm als alleinerziehendem Vater oftmals Anfeindungen seitens anderer Mütter begegnen. 

Aber auch alltägliche Situationen, die jeder kennt und niemand thematisiert, traut sich die Serie musikalisch zu verarbeiten: „Trapped in a Car with Someone You Don’t Want to Be Trapped in a Car With“ thematisiert das unangenehme Schweigen bei langen Autofahrten mit unliebsamen Mitfahrern, „The First Penis I Saw“ geht um die ungeschickten und peinlichen Details des berühmten ersten Mals und in „Period Sex“ wird über die unappetitlichen Erfahrungen von Beischlaf während der Regelblutung berichtet. So gibt es Songs über die Gefahren anonymer Sexdates, die schrulligen Eigenheiten betrunkener Partyfreundinnen, das Tabu, als Mann zu Weinen oder das obsessive Durchforsten von Social Media nach pikanten Informationen über unliebsame Mitmenschen. Es gibt Lieder wie „I’m the Villain in My Own Story“, die von Selbstvorwürfen und schlechtem Gewissen handeln und Songs wie „Let’s Generalize About Men“, in dem es darum geht, dass Frauen nach Enttäuschungen in der Liebe dazu tendieren, alle Männer aus Selbstschutz über einen Kamm zu scheren. Es wird geflucht, geweint, gelacht und getanzt, in bester Musical-Manier und mit absolut realen und greifbaren Themen. Die Serie nimmt kein Blatt vor den Mund, was nicht nur lustig ist, sondern auch Tabus bricht, aufklärt und zur Selbstidentifizierung mit unausgesprochenen Problemen einlädt.

Rachel Bloom spielt nicht nur die Hauptrolle der Rebecca Bunch, sie hat die Serie auch mitentwickelt und -produziert. Die meisten der Darsteller stammen aus dem Musical-Business des Broadways oder in Los Angeles. Insofern bringen ausnahmslos alle Hauptakteure eine enorme gesangliche Qualität und Bühnenerfahrung mit und wissen sich auch in den anspruchsvollsten Choreographien – wovon es in der Serie viele gibt – bestens in Szene zu setzen. Trotz ihres theatralischen Hintergrunds wirkt das Schauspiel an gewollten Stellen immer authentisch und berührend und nur dann überzogen, wenn explizit darauf abgezielt ist. Dabei ist Donna Lynne Chaplin, die Rebeccas Freundin Paula spielt, mit großem Abstand die beste Sängerin unter den Hauptdarstellern – sie erreicht mühelos Weltklasse-Niveau in ihren gesanglichen Darbietungen.

In Gastrollen sind auch Broadway-Legenden wie Patti Lupone, Lea Salonga, Tovah Feldshuh und Josh Groban mit grandiosen Liedern zu erleben. Feldshuh singt in der Rolle von Rebeccas Mutter mit „Where’s the Bathroom?“ eine Meckertirade, die fast alle von ihren eigenen Müttern kennen dürften und Lea Salonga schmettert als Klischee-Disney-Darstellerin den schmierigsten und kitschigsten Liebessong, den man je gehört hat: „One Indescribable Instant“.

Die gesamte Serie ist filmisch grandios umgesetzt und besticht vor allem in den hunderten Musical-Szenen mit hochwertigen Kulissen und Kostümen. In schwarzweiß und klassischen Roben der frühen Hollywood-Musicalfilme wird bei „Settle for Me“ der Walzer getanzt, während bei „The Groupmind Has Decided You’re in Love“ eine ganze Western-Landschaft entsteht oder bei „We’ll Never Have Problems Again“ die Discoszene der 1970er wieder aufersteht. Dabei werden alle Musikgenres von Jazz und Blues über Pop, Punk, Rap und Rock bis hin zu Klassik, Country, Techno und Metal parodiert. Anlehnungen an Interpreten wie ABBA, Bonnie Tyler, Nicki Minaj, Beyonce, die Supremes oder Britney Spears sind mit Sicherheit keine Zufälle. Viele bekannte Musicals werden gewinnbringend durch den Kakao gezogen: „Chicago“, „My Fair Lady“ und das gesamte Disney-Repertoire sind nur ein paar Beispiele. So wird bei dieser Serie auch musikalisch jeder eine Möglichkeit bekommen, sich selbst zu finden – sicherlich inhaltlich so wie auch thematisch in dem einen oder anderen Song und einigen der plastisch geschriebenen Figuren.

Aber Achtung: Die Serie regt zum Nachdenken an und birgt die Gefahr, als selbstreflektierter Mensch nach dem Schauen mit mehr Achtsamkeit durchs Leben zu gehen. Und bis zu 150 Ohrwürmer könnte man auch noch davontragen. Ein unbedingtes Muss für alle Musicalfans!

„Crazy Ex-Girlfriend“ streamt aktuell auf Netflix.

Overlay