Kaum ein angekündigter Disney-Film hat in den letzten Jahren für mehr Furore gesorgt und wurde in den sozialen Medien schon lange vor der Erstausstrahlung so heiß diskutiert wie das Remake des Disney-Klassikers „The Little Mermaid“. Das Original aus dem Jahr 1989, basierend auf einem Märchen von Hans Christian Andersen, begründete ein neues Genre von Filmmusicals und zählt bis heute zu den beliebtesten Zeichentrickfilmen aller Zeiten. Zahlreiche Folgemedien nahmen sich des Stoffes an, darunter ein Broadway-Musical, eine Serie und Hörspiele sowie zahllose Spin-Offs – und nun das Remake des Animationsfilms als Realverfilmung. Eine illustre Reise, die Arielle in den letzten Jahrzehnten bis zu ihrer neuesten Inkarnation in Gestalt von Halle Bailey hinter sich gebracht hat.
Wer mit dem Original-Film aufgewachsen ist, wird wohl mit gemischten Emotionen aus diesem Kinostreifen gehen. Viele ikonische Szenen fehlen oder wurden verändert, einige der bekannten Lieder gestrichen, neue hinzugefügt und eine gute Hand voll Figuren sind entweder kaum wiederzuerkennen oder fehlen gänzlich. Zudem wurden die Hauptakteure charakterlich signifikant weiter ausgearbeitet und das Setting des Filmes ist nun an vielen Stellen mehr mit der Realität vernetzt, weniger märchenhaft als isolierte Welt für sich stehend. Wer also eine 1:1-Replika erwartet, der wird enttäuscht werden.
Die Visualität des Films ist überwältigend – gerade in 3D wirkt die Unterwasserwelt mit all den bunten und zum Teil befremdlichen Meereswesen beeindruckend. Man staunt, was ‚heutzutage alles möglich ist‘ und das innere Kind, das sich niemals hätte vorstellen können, dass Arielles Welt ‚Wirklichkeit‘ werden könnte, hat an der Optik mit Sicherheit große Freude. Die offensichtliche Märchenhaftigkeit des Stoffes wird durch visuelle Magie ersetzt: Wir finden keinen funkelnden Meerespalast Atlantica mehr vor, sondern erkunden mit dem Meervolk zusammen die riesigen Korallenriffe, in denen es wie in einer Stadt wohnt. Die Meerhexe Ursula lebt nicht mehr in einem theatralischen, lila leuchtenden Seeungeheuer-Skelett, sondern in einer – in ihrer düsteren Bedrohlichkeit real wirkenden – Tiefseehöhle. Das Königreich von Erik ist kein Märchenklischee im westlich geprägten Stil, sondern ein kleines Inselparadies in der Karibik mit entsprechendem Flair. Auch sind die Meerjungfrauen hier keine singenden Konzertsopranistinnen auf König Tritons Musikabenden, sondern repräsentieren hoheitlich die sieben Weltmeere, die sie für ihren Vater überblicken und ein Mal im Jahr aus der Ferne bei Vollmond offiziell zusammenkommen. Die von alters her bekannte Meerjungfrauenmystik ist in diesem Film deutlich zu spüren – dass Arielles Schwestern mit ihrem Sirenengesang eine übersinnliche Magie zu erzeugen vermögen , wird durch die Perspektive der am Land lebenden Menschen auf eine realitätsnähere Ebene manövriert. Insgesamt lässt die visuelle Darstellung den Film deutlich erwachsener wirken.
Dies wird auch durch die ausgearbeitete Charakterisierung der Hauptfiguren noch unterstrichen: Die aus einer tiefen Seelenverwandtschaft aufkeimende Liebe zwischen Arielle und Erik ist im Vergleich zur Darstellung von 1989 deutlich nachvollziehbarer und vielschichtiger Gestaltet. Arielle ’steht‘ nicht nur einfach auf den Prinzen, sondern spürt innere Verbundenheit: Beide Figuren haben ähnliche Interessen und Träume, ein sich gleichendes Temperament und leben in einem Umfeld, das es ihnen nicht erlaubt, ihre eigenen Wünsche zu erfüllen. Durch viele zusätzliche Szenen wird vor allem die Figur des Prinzen hier der der Arielle angenähert. Erik muss sich plötzlich gegen die neu eingefügte Figur seiner herrischen Mutter durchsetzen und bekommt eine Hintergrundgeschichte verpasst, die sein Gefühl des ‚Andersseins‘ greifbar machen lässt und so seine Zuneigung zu Arielle verständlich macht – und das Ganze, obwohl sie kein Wort sprechen kann, als sie offiziell aufeinandertreffen.
Diese Thematik war vielen ‚Logikern‘ unter den Zuschauern des Originalfilms schon immer ein Dorn im Auge: Arielle, die aus Liebe zum Prinzen ihre Stimme opfert, um ein Mensch zu werden und verzweifelt drei Tage lang versucht, Erik den Kuss der wahren Liebe abzuringen, um für immer mit ihm zusammen bleiben zu können, aber in all der Zeit nie versucht, ihm den Ernst der Lage begreifbar zu machen – eine Figur, die aus der Zeit gefallen wirkt und mit der in diesem Remake ‚aufgeräumt‘ wurde. Keine bloße Schwärmerei, sondern ein profunder Wunsch nach Entdeckung einer für sie unbekannten Welt, die sich in der Zuneigung zum Prinzen lediglich manifestiert. Kein verzweifeltes Ringen um einen Kuss, sondern Aufbauen einer tiefen Seelenverwandtschaft – denn Arielle kann sich aufgrund eines zusätzlichen Zaubers im Remake gar nicht an ihr Ultimatum erinnern. Wortlose Verständigung über Symbolsprache und gemeinsame Leidenschaften. Die beiden Hauptfiguren sind erwachsener geworden und wirken deutlich zeitgemäßer, ebenbürtig und wesentlich tiefgründiger verbunden. Arielle wird als stärkere junge Frau in diesem Film reinkarniert und nimmt zum Schluss nicht nur sinnbildlich die Zügel in die Hand und steuert das Schiff…
Auch einige der Nebenfiguren erhalten mehr Farbe und Greifbarkeit, während sich die großen Rollen der Seehexe Ursula und ihres Bruders König Triton (diese verwandtschaftliche Beziehung wurde wohl aus der Musicalversion übernommen und hat in diesem Film leider überhaupt keine weiterreichende Funktion) weitestgehend an den ‚Originalen‘ orientieren. Die Krabbe Sebastian und Arielles bester Freund Fabius haben gefühlt weniger Onscreen-Zeit und werden vergleichsweise sogar eher blasser als in der Filmvorlage aus den 1980ern dargestellt. Sebastians epischer Sub-Plot, in dem er mit dem Schlosskoch kämpft, ist mitsamt der Figur des Koches und des Liedes „Les Poissons“ aus dem Film verschwunden. Der einzige Sidekick von Arielle, der mehr Profil erhält, ist die Möwe Scuttle, die deutlich erwachseneren Humor in den Film einfließen lässt und das berühmte „Comic Relief“ des gesamten Streifens souverän auf eigenen Flügeln trägt. Die Figur des Dieners Grimsby wird signifikant ausgeweitet und ist in diesem Film für Erik der Vertraute und Vaterersatz, den seine Figur benötigt, um Halt zu finden – eine ähnliche Funktion erfüllen die drei tierischen Begleiter Arielles für sie.
Der Score von Alan Menken mit den wunderschönen Texten von Howard Ashman ist letztendlich aber das, was den Film zu einem nostalgischen Erlebnis der Extraklasse macht. Die Orchestrierungen klingen traumhaft – jedes der nuanciert eingesetzten Gesangsstücke aus dem Originalfilm verzaubert und die Instrumental-Partien im Hintergrund der Szenen verleihen dem Film ein epochales Gefühl, das Gänsehaut, Staunen und Tränen hervorrufen kann. Neue Arrangements, die in Zusammenarbeit mit Lin-Manuel Miranda entstanden, wirken stilistisch disharmonisch zu den Menken-Ashman-Melodien und stören zum Teil wohl auch nicht nur dadurch, dass sie schlichtweg ungewohnt sind. Arielle und Erik erhalten durch Menken und Miranda jeweils noch ein neues Solo-Lied. Die Songs zielen darauf ab, ihre Figuren und deren Wünsche plastischer werden zu lassen, dürften aber wahrscheinlich nicht die größten Gassenhauer werden und keinen Kultstatus erreichen. Den hat mit Sicherheit immer noch „In Deiner Welt“ bzw. „Part of Your World“, das in diesem Film zudem sogar mehrere sehr ergreifende Reprisen bekommt. Die beiden beschwingteren Songs „Unter dem Meer“ („Under the Sea“) und „Küss sie doch“ („Kiss the Girl“) sind herrlich überzeichnet und wecken wahre Disney-Nostalgie. Das von Ursula geschmetterte „Arme Seelen in Not“ („Poor Unfortunate Souls“) wirkt in dieser Version durch die opulente Orchestrierung sogar mitreißender als das Original.
Die englischsprachige Originalbesetzung des Films kann durchweg überzeugen. Vor allem Halle Bailey und Melissa McCarthy werden ihren Rollen – ursprünglich von den grandiosen Synchronsprecherinnen und Broadway-Stars Jodie Benson und Pat Carroll gesungen – sehr gerecht und heben sie in ein moderneres Flair. Bailey führt als Hauptdarstellerin solide durch die Handlung des Films und gibt eine willensstarke Meerjungfrau, mit der man sympathisiert. Nicht nur als ‚Person of Colour‘ ist Baley in ihrer Rolle für eine ganz neue Generation von Arielle-Fans inspirierend. Ihr Schauspieltalent ist offensichtlich – emotional und temperamentvoll, vielschichtig und differenziert stattet sie ihre Arielle mit vielen Charaktereigenschaften aus, die ihr Original-Vorbild nicht hatte. Ihre grandiose Gesangsstimme ist das Sahnehäubchen auf ihrer Portraitierung der Meerjungfrau.
Auch Melissa McCarthy in der Rolle der Seehexe sollte besonders herausgehoben werden. Ihr gelingt es, sich der wahrscheinlich mit den größten Vorerwartungen belasteten Rolle der nach dem Vorbild der Drag Queen Devine animierten, bitterbösen Ursula zu befreien und ihre ganz eigene Inkarnation zu erschaffen. Da muss ihr ausladendes Äußeres, ihr opulentes Make-Up oder ihre Stimme auch nicht 1:1 der klassischen Meerhexe ähneln, die für all diese Punkte längst Ikonenstufe erreicht hat. McCarthy erweitert Ursulas Sinn für morbiden Humor um Elemente, mit denen sich viele Zuschauer identifizieren können: Sichtlich genervt von Arielles Unentschlossenheit wirkt sie zuweilen wie eine überforderte entfernte Verwandte, die endlich ihre Ruhe haben will, aber trotzdem freundlich bleiben muss. Eine besonders lustige und alltagsnahe Szene ist, als Ursula ihren Verwandlungstrank sucht, um in Menschengestalt persönlich der Entwicklung der Geschichte in ihrem Sinne auf die Sprünge zu helfen. Sie durchwühlt aggressiv ihre Schränke und meckert vor sich hin, dass wieder einmal nichts dahin zurück gestellt wurde, wo es hingehört. Nach einem Ausraster findet sie den gesuchten Trank schließlich doch und kommentiert dies nur mit „Achso, hier ist er ja!“ Ursula ist trotz ihrer Verkommenheit zu einer Figur geworden, mit der erwachsene Zuschauer resonieren können. Gruselig ist sie für das jüngere Publikum aber immer noch – vor allem im Finale des Films, in dem sie sich in ein gigantisches Seemonster verwandelt, ist die realitätsnahe visuelle Darstellung nichts mehr für kleine Kinder.
Die deutsche Synchronisation ist in weiten Teilen vortrefflich geglückt. Lobend herauszustellen ist hier vor allem Rieke Werner, die Arielles Sprechstimme einen Hauch klassischer Disney-Prinzessinnen-Nostalgie verleiht und gleichzeitig zur ’neuen‘ Arielle-Inkarnation perfekt passt. Sophia Riedl übernimmt die Gesangsparts und schafft es mit ihrer ausgebildeten Musical-Singstimme sehr nah an Halle Baileys überstarken Gesang heran. Auch Aline Staskowiak überzeugt stimmlich als Ursula in Schauspiel wie Gesang auf ganzer Linie. Konrad Bösherz als Eriks Sprechstimme passt perfekt auf seine Figur, während Patrick Stamme in seinen Gesangsparts leider stimmlich eine komplette Fehlbesetzung ist und die Frage laut werden lässt: Gab es keinen passenderen Sänger aus der Musical-Branche für dieses anspruchsvolle Lied des Prinzen?
Ein letzter Wermutstropfen für ‚wahre‘ Arielle-Fans zum Schluss: Für die deutschen Songtexte wurde leider nicht die umjubelte Original-Synchronisation benutzt, sondern die vielseits eher geschmähte Fassung von 1998, die zwar näher am englischsprachigen Original sein sollte, aber im direkten Vergleich mit der Ursprungsfassung wenig inspiriert und fern von jeglichem lyrischen Gefühl und Wortästhetik scheint. Eine verpasste Chance! Dennoch: Dieser Film wird in jedem Disney-Fan, ob jung oder alt, mit Sicherheit magische Gefühle erwecken und es lohnt sich auf jeden Fall, der ’neuen Arielle‘ eine Chance zu geben.
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