Yannik Gräf (Gabe), Susanne Engelhardt (Diana), Patrick Imhof (Dan) © Detlev Müller
Yannik Gräf (Gabe), Susanne Engelhardt (Diana), Patrick Imhof (Dan) © Detlev Müller

Fast Normal (2023 - 2024)
Mittelsächsisches Theater, Freiberg/Döbeln

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

“Next to Normal” macht es sich zu keinem Zeitpunkt einfach mit dem (Leider-immer-noch-)Tabuthema ‘psychische Erkrankungen’, umschifft die gängigen Klischees und den Wunsch nach simplen Lösungen. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – hat es Tom Kitts und Brian Yorkeys Musical in den letzten 10 Jahren geschafft, sich auf den deutschsprachigen Stadttheaterbühnen zu etablieren. Sergio Raonic Lukovic gelingt am Mittelsächsischen Theater eine feinfühlige und bewegende Inszenierung mit einem großartigen Hauptdarsteller-Quartett.

“Das Haus ist am Rotieren”, bemerkt Diana Goodman (Susanne Engelhardt) am Ende des Auftaktsongs, als die Fassade von Normalität erstmals bröckelt. Diese Metapher spiegelt sich auch im Bühnenbild von Ulv Jakobsen wieder: Zwei Bühnenelemente stellen das Haus der Goodmans dar und legen durch manuelle Drehungen den Blick auf verschiedene Zimmer im Goodmanschen Eigenheim sowie die Praxen der Therapeuten Dr. Fine und Madden frei. Die Rotation ist einerseits zweckmäßig, um aus der kleinen Bühne des Theaters Döbeln so viel Raum wie möglich herauszuholen und immer neue Szenerien zu schaffen – sie ist aber auch ein sehr geschicktes Stilmittel, das einfach aber effektiv versinnbildlicht, wie instabil die Illusion vom Familienidyll ist. 

Während sich Diana ihrer bipolaren Störung stellt und dem Publikum nach und nach das Ausmaß und die Hintergründe ihrer Krankheit vor Augen geführt werden, ist es vor allem Familienvater Dan, der auf Krampf versucht, dieses Idyll aufrechtzuerhalten – auch dann, wenn es eigentlich schon längst nicht mehr geht. Patrick Imhof zeichnet Dan mit einer fast schon toxischen Positivität – ein Meister im Verdrängen und im ‘Alles wird gut’, der lieber eine Scheinwelt aufbaut, als sich der Realität zu stellen. So ist er gleichzeitig der Fels in Dianas Brandung und der Stein auf dem Weg ihrer Besserung. Imhof gelingt es, die komplexe Rolle glaubhaft und einfühlsam darzustellen und Sympathie für Dan zu wecken. 

Mindestens ebenso vielschichtig ist Susanne Engelhardts Interpretation von Diana. Zwischen strahlender, fürsorglicher Hausfrau und kompletten mentalem Zusammenbruch, zwischen Halluzinationen und Trauerbewältigung, zwischen Therapieerfolgen und -rückschlägen besticht Engelhardts Spiel in jedem Moment durch Natürlichkeit. Dianas Kampf mit ihrer Krankheit und den Erwartungen, die ihre Familie und die Therapeuten an sie stellen, ist letztendlich ein Kampf um sich selbst. Das Publikum lacht, leidet und hofft mit ihr mit. Ihre leisen Momente wie bei ihrem finalen Solo “Ich werde dich verlassen” rühren bisweilen zu Tränen. Aber auch in den energischeren Songs kann sie begeistern. Ein Highlight ist das Duett “Was weißt du? / Kein Mensch” im ersten Akt, bei dem Diana und Dan voller gegenseitigem Unverständnis aufeinanderprallen – stimmlich Susanne Engelhardt aber ganz wunderbar mit Patrick Imhofs starken, wohlklingenden Bariton harmoniert.

Wenig Verständnis für Dianas Wahn hat auch Tochter Natalie – und ist ihrer Mutter dabei doch in vielerlei Hinsicht ähnlich. Anna Burger gibt der hochbegabten, sich nach familiärer Anerkennung sehnenden jungen Frau eine Prise Teenager-Aufmüpfigkeit, aber gleichzeitig auch eine aus der familiären Situation geborenen Reife. Dabei schmettert Burger ihre Songs mit einer erfrischenden, klaren Stimme heraus, die gleich bei ihrem ersten Einsatz im Eröffnungstitel “Wie an jedem Tag” aufhorchen lässt.

Der vierte im (Familien-)Bunde ist Yannik Gräf als Sohn Gabe, der in Dianas Scheinrealität aber zu einem jungen Mann herangewachsen ist. Er ist immer im Hintergrund oder mittendrin, sitzt beim Familienfrühstück am Tisch, hilft Diana bei der Entsorgung ihrer Medikamente und kämpft verzweifelt gegen das Vergessen-Werden an. Gräfs strahlender Tenor macht sein triumphales “Ich lebe” zu einem Höhepunkt in der gesanglich ohnehin brillanten Inszenierung. Und die Reprise von “Kein Mensch” am Ende des Stücks, wenn Dan den Schritt aus der Verdrängung wagt und Gabe endlich gegenübertritt, ist ein Gänsehautmoment – schauspielerisch pointiert und im Zusammenspiel perfekt.

Das Schöne an Sergio Raonic Lukovics Inszenierung ist, dass sich sowohl die vier Hauptcharaktere als auch ihre Darsteller in jeder Hinsicht ebenbürtig sind. Keiner dominiert, keiner verblasst oder wird in den Hintergrund gedrängt. Die Balance zwischen den Mitgliedern der Goodman-Familie stimmt. Dadurch wird Verständnis für die Situation aller vier Charaktere aufgebaut und jeder ist für sich ein Sympathieträger.

Am besuchten Vorstellungstag haben sie einen zusätzlichen gemeinsamen Gegner, gegen den sie tapfer ankämpfen: die Akustik im Theater Döbeln. In den leiseren Passagen stimmt die Balance zwischen der von José Luis Gutiérrez Hernandez geleiteten Band und den Solisten. Aber sobald mächtigere Töne aufkommen, kommt die Musik viel zu laut und unangenehm dumpf aus den Lautsprechern und sogar der kraftvollste Gesang kommt nicht dagegen an. Besonders wenn mehrere Rollen gleichzeitig singen, bleibt das Textverständnis komplett auf der Strecke. Ärgerlich, denn ansonsten ist diese Produktion rundum gelungen.

Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Alexander Donesch darf mit Dr. Fine und Dr. Madden gleich zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere verkörpern. Fine füllt Diana ohne Rücksicht auf Verluste und Nebenwirkungen mit Pillen ab; als Madden zeigt sich Donesch einfühlsam und doch letztendlich hilflos ob der Grenzen der modernen Medizin. Angus Simmons als Natalies Klassenkamerad und Freund Henry möchte ihr den Rücken stärken und sie auffangen. Doch so sympathisch sein Henry ist und so sehr die Chemie zwischen ihm und Natalie auch stimmt, die Parallelen zwischen der aufkeimenden Liebe der beiden und der Beziehung des Ehepaars Goodman sind nicht zu übersehen.

Wenn sich nach dem offenen Ende der Vorhang mit dem Rorschach-Test-Bild senkt, bleibt schließlich die Frage: Wer ist schon “normal”? Wer definiert Normalität? Diana hat eine ärztlich bestätigte Diagnose, die aber auf Richtlinien wie “Trauer, die länger als 4 Monate anhält, ist pathologisch und muss mit Tabletten behandelt werden” basiert. Dan gesteht sich erst ganz am Ende des Stücks ein, dass auch er Hilfe benötigt. Natalie entflieht dem heimischen Druck nicht nur mit durchfeierten Nächten – sondern auch, indem sie den Medikamentenschrank ihrer Mutter plündert und heimlich Psychopharmaka einwirft. Henry behandelt sein ADHS mit Kiffen, Dr. Fine ist nicht nur optisch das karikaturistische Sinnbild eines verrückten Wissenschaftlers, und Dr. Madden widerspricht sich bei Dianas Behandlungsplan immer wieder selbst, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der augenscheinlich “Normalste” ist scheinbar Gabe – der ist jedoch nur ein Trugbild, fernab der Realität. Vielleicht sagt auch das viel über das Konzept “Normalität” aus.

 
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KREATIVTEAM
MusikTom Kitt
Buch und GesangstexteBrian Yorkey
ÜbersetzungTitus Hoffmann
InszenierungSergio Raonic Lukovic
Musikalische LeitungJosé Luis Gutiérrez
AusstattungUlv Jakobsen
 
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CAST (AKTUELL)
Diana GoodmanSusanne Engelhardt
Dan GoodmanPatrick Imhof
Gabe GoodmanYannik Gräf
Nathalie GoodmanAnna Burger
HenryAngus Simmons
Doktor Fine / Doktor MaddenAlexander Donesch
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 04.11.2023 19:30Theater, FreibergPremiere
Di, 07.11.2023 19:30Theater, Freiberg
Sa, 11.11.2023 19:30Theater, Freiberg
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