Ulrich Wiggers bei der Arbeit; hier hinter den Kulissen von "Meisterklasse" in Magdeburg © Andreas Lander
Ulrich Wiggers bei der Arbeit; hier hinter den Kulissen von "Meisterklasse" in Magdeburg © Andreas Lander

Noch nie so viele Tränen bei den Proben erlebt

Vor 9 Jahren war die Uraufführung bei den Thuner Seefestspielen unter der Regie von Andreas Gergen, 2014 dann ein fünfmonatiges Gastspiel in Wien, jetzt erstmalig in Deutschland: “Der Besuch der Alten Dame” war ursprünglich für die Saison 2020 geplant, doch Corona wollte es anders. Mit zweijähriger Verspätung ist es nun am 22. Juli 2022 endlich soweit und Ulrich Wiggers kann seine Inszenierung von “Der Besuch der Alten Dame” auf der großen Tecklenburger Freilichtbühne zeigen.
Wiggers ist ein echtes Arbeitstier. Seit 9 Wochen arbeitet er ohne einen freien Tag, meist 12 Stunden täglich. Trotzdem findet er die Zeit, um uns abends nach einer Probe zu treffen und mit uns ausführlich über sein aktuelles Projekt zu sprechen.

In den Kritiken der Aufführungen aus Thun und Wien ist “Der Besuch der Alten Dame” ja nicht besonders gut weggekommen. Der Kurier schrieb: “Bombastisch, pompös, kitschig. Choreographie: Gewöhnungsbedürftig. Musik: beliebig, Ohrwürmer fehlen.”


Hast du die Inszenierungen in Thun und Wien gesehen, und wie hast du das Stück empfunden?

Ulrich Wiggers: Ich habe das Stück tatsächlich nicht gesehen und mich im Zuge meiner eigenen Inszenierung erstmals damit beschäftigt. Ganz ehrlich muss ich sagen, dass ich es nicht verstehen kann, warum es nach 2014 nie wieder gespielt wurde. Es ist wirklich ein ganz tolles Musical mit einer mitreißenden Geschichte, großartiger Musik und fantastischen Nummern. Die Musik hat ihren ganz eigenen Stil und das trifft auch auf die Choreographien zu, die einen besonderen Umgang erfordern. Ich habe mir nicht umsonst Bart de Clerque als Choreographen ausgesucht.

Die Frage danach, inwieweit dich vorherige Inszenierungen eventuell beeinflusst haben, erübrigt sich also. Aber ganz allgemein: Liest du Rezensionen über andere Inszenierungen, bevor du dich an die eigene setzt?

Ulrich Wiggers: Nein, ganz bewusst nicht. Ich habe mich vielmehr sehr viel mit Dürrenmatt beschäftigt. Nicht nur mit diesem Stück, sondern auch mit einer kleinen Erzählung, die ihm vorausgeht. In der Schule musste ich “Besuch der Alten Dame” tatsächlich nicht lesen – sehr schade eigentlich, rückblickend.

“Der Besuch der Alten Dame” ruft die ganze Bandbreite an Emotionen ab; am Ende steht das Todesurteil…

Ulrich Wiggers: Oh ja, das Stück ist tatsächlich sehr emotional und ich habe in der Tat noch nie so viele Tränen auf der Bühne erlebt wie gerade jetzt hier bei den Proben. Und das ist auch kein Wunder. Das passiert, wenn man sich auf diesen Stoff einlässt – gerade durch die Figuren junge Claire und junger Alfred. Ich habe den Umgang mit den Figuren noch einmal intensiviert. Sie gehen wirklich sehr real mit ihren beiden älteren Egos um, spielen miteinander, berühren sich und gehen einander an: die junge Claire an den älteren Ill und umgekehrt. Ich habe selbst den Umgang zwischen den Jungen und der älteren Mathilde gesucht, weil ich mir gut vorstellen kann, dass Mathilde um das Verhältnis zwischen Ill und Claire wusste. Ich denke, dass sie zum Beispiel auch in den Wald gegangen ist und sich dort diese Bank angeguckt hat, auf der sich die Beiden immer getroffen haben. Am Ende des Stückes erfährt Mathilde ja, dass ihr Mann sie nie geliebt hat. Da setze ich sie dann ganz kurz auf diese Bank und die Jungen begegnen ihr dort. Das ist schon sehr emotional.

Welche Szene hat dir am meisten Kopfzerbrechen bereitet, was die Umsetzung angeht?

Ulrich Wiggers: Das war ohne Zweifel “Tempel der Moral.” Eine der größten choreografischen Szenen, aber wirklich schwierig. Man will noch einmal etwas Lustiges einbringen, bevor das Drama seinen weiteren Lauf nimmt, aber das ist nicht einfach.

Beim “Besuch der Alten Dame” geht es ja auch darum, dass man mit Geld alles kaufen kann. Eine Gruppe Bürger lässt sich von einer einzigen Person so beeinflussen, dass sie einen Mord begehen, redet sich aber gleichzeitig ein, dass sie Gerechtigkeit üben, um so ihr Handeln zu rechtfertigen.


Wie aktuell ist dieses Thema aus deiner Sicht in der heutigen Zeit?

Ulrich Wiggers: Absolut aktuell. Bei Dürrenmatt steht: “‘Der Besuch der Alten Dame’ spielt in der Gegenwart.” Und wenn es bei Dürrenmatt steht, dann lasse ich es auch in der Gegenwart spielen, ist ja klar. Auch wenn die Handlung ein bißchen weit hergeholt scheint, glaube ich schon an die Aktualität des Themas. Man gibt sich mit gewissen Dingen in andere Hände, wird abhängig von etwas, und irgendwann muss man dafür zahlen. Stichwort Gasversorgung und Herr Putin.

Hier begibt sich das ganze Dorf in die Hand von dieser Frau, die sagt, ich zahle euch 2 Milliarden, wenn Alfred stirbt. Daraufhin gehen die Bürger los, geben Geld aus und holen sich Kredite – natürlich in der Hoffnung, dass sie es gar nicht so gemeint hat. Aber irgendwann fordert Claire es eben ein. Dann versuchen Bürgermeister, Lehrer und die übrigen Bürger noch, einen Ausweg zu finden, aber es ist zu spät. Die Dame sagt: “Ihr wisst, was ihr zu tun habt.” Das ist hart, vor allem die Schlussszene.

Hast du eine besondere Herangehensweise an Schlussszenen – gerade wenn sie so viel Bedeutung tragen, wie diese?

Ulrich Wiggers: Ich mache meine Schlussszenen immer am liebsten kurz vor der Premiere. Aber hier musste ich ein bisschen früher ran, weil ich einfach verschiedene Dinge ausprobieren wollte. Ich wollte es sehr stilistisch machen, und wollte sehen, ob es immer noch emotional ist… aber ich glaube schon. Ob es mir gelungen ist, können die Zuschauer dann selber urteilen. Ich möchte nicht zuviel verraten.

Wir sind sehr gespannt! Wieviel Freiraum hast du eigentlich bei einem Stück wie diesem, wo die Vereinigten Bühnen Wien und der Diogenes-Verlag die Rechte haben?

Ulrich Wiggers: Ich habe schon meinen Freiraum, aber gewisse Dinge darf ich natürlich nicht ändern. Ich darf zum Beispiel keine Szenen rausschmeißen oder sagen, ich besetze jetzt Mathilde mit einem Mann… aber das versteht sich ja von selbst.

Die Freilichtspiele Tecklenburg schreiben auf ihrer Homepage: “Der Besuch der Alten Dame” ist “eine Herausforderung nicht nur in der Konzeption, sondern auch der Besetzung. Es gilt, eine Provinzstadt mit Leben zu füllen.” Glaubst du, das ist euch mit der Besetzung gelungen

Ulrich Wiggers: Oh ja! Sehr sogar! Ich muss noch einmal herausstellen, wie wunderbar es ist, hier so ein Ensemble zu haben, das so großartig bei der Sache ist und so ungeheuer viel arbeitet. Die meisten sind sowohl im Kindermusical als auch bei “Sister Act” besetzt, haben keinen Tag frei und proben zusätzlich noch für die zweite Großproduktion, die einen ganz anderen Stil hat. Wir proben seit 3 Wochen täglich von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends. Es gilt unglaublich viele Texte, Choreografien und Melodien zu lernen. Und trotzdem knien sie sich rein und sind mit viel Liebe bei der Sache. Ich kann mein Ensemble gar nicht genug loben. Meine Arbeit würde ohne diese engagierten Leute nicht funktionieren.

In der Tat zeichnen sich die Produktionen der Freilichtspiele Tecklenburg stets durch die großen, Bühne füllenden Ensembleszenen aus, die seit etlichen Jahren zu einem Markenzeichen geworden sind. Aber auch die Riege der Hauptdarsteller ist beeindruckend.

Ulrich Wiggers: Meine Hauptdarsteller sind durch die Bank ebenfalls großartig, keine Frage. Mit Navina Heyne arbeite ich zum ersten Mal zusammen. Sie ist für mich eine wirkliche Entdeckung! Thomas [Borchert] lässt sich voll und ganz auf alles ein und ist ebenfalls mit Leib und Seele dabei. Und mit Masha [Karell] habe ich meine ideale Claire gefunden! Dann sind da noch meine “Jungen”: Katia Bischoff als junge Claire, Fabio Diso als junger Alfred – beides großartige Talente, die selbst kürzeste Regieanweisungen sofort verinnerlichen und umsetzen können.

Am Sonntag vor der Premiere habt ihr eine Durchlaufprobe. Kannst du für unsere Leser einmal schildern, was man sich unter einer Durchlaufprobe vorzustellen hat?

Ulrich Wiggers: Wir haben das Stück zwar schon einmal komplett durchlaufen, also durchgespielt, aber dann spielen wir das Stück zum ersten Mal komplett mit Kostümen, zum ersten Mal mit Orchester. Früh starten wir zunächst einmal mit einer zweistündigen Kostümprobe nur fürs Ensemble, damit alle wissen, in welcher Szene sie welche Kostüme tragen und wie schnell sie von einem Kostüm ins nächste wechseln müssen. Man muss sich vorstellen, dass die Anproben der Kostüme 5-6 Wochen zurückliegt. Und dann kommt am Abend auch zum ersten Mal das Licht dazu. Viele erste Male also! Das wird spannend und aufregend! Die ersten Bühnen- und Kostümproben sind immer etwas nervenaufreibend, aber letzten Endes wird alles gut!

Spätestens zur Premiere am Freitag! Aber jetzt mal gedanklich weiter: Du bist ein vielbeschäftigter Mann, inszenierst nicht nur Musical, sondern auch Schauspiel, Operette und Oper. Welche Projekte stehen bei dir als nächstes an?

Ulrich Wiggers: Ich bin bis Mitte nächsten Jahres ganz gut beschäftigt. Nach der Premiere in Tecklenburg habe ich zwei Wochen Pause, bevor es dann nach Stuttgart geht, wo ich das Schauspiel “Cyrano de Bergerac” mache. Danach geht es zum Musiktheater nach Linz zu “Catch me if you Can” , dann “Der Sturm” in Eggenfelden und schließlich zur Operette “Das Veilchen vom Montmartre” in Leipzig. Im Juni 2023 gehen schließlich meine Magdeburger Musketiere auf die Freilichtbühne am Roten Tor in Augsburg.

Vielen Dank, dass du dir trotz deines vollen Terminkalenders die Zeit für das Gespräch mit uns genommen hast. Wir wünschen dir viel Erfolg für deine anstehende Premiere.

 
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