Eigenheiten des Musicals als ästhetische Form

Der Theaterwissenschaftler und Autor Wolfgang Jansen über die Gründung des Deutschen Musicalarchivs, das Sammeln von Musical-Memorabilia sowie den Stand und die mögliche Entwicklung des Musicals im deutschsprachigen Raum.

Der mittlerweile in Berlin lebende Wolfgang Jansen studierte Theaterwissenschaft und lehrt selbige inzwischen an verschiedenen Hochschulen. Er ist Gründer der Gesellschaft für unterhaltende Bühnenkunst (GUBK) und war viele Jahre deren Vorsitzender. Außerdem schrieb er unter anderem das Buch Cats & Co. – Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater und initiierte die Gründung des Deutschen Musicalarchivs.

Was genau ist das Deutsche Musicalarchiv und wie kamen Sie auf die Idee, ein solches zu gründen?

Mit der Gründung des Deutschen Musicalarchivs ist geplant, möglichst alles, was zur Geschichte der Gattung gehört, zu bewahren, zu dokumentieren und der theater- und musikwissenschaftlichen Forschung zugänglich zu machen. Dabei soll der Schwerpunkt auf der Entwicklung im deutschsprachigen Theater liegen. Es soll keine willkürliche Abgrenzung vollzogen werden, denn natürlich wird man Material über die Entstehungszusammenhänge eines Stückes in den USA oder England ebenso in die Bestände aufnehmen. Doch eine internationale Beliebigkeit ist kaum sinnvoll. Bislang fehlte es ja an einer zentralen Anlaufstelle für das Musical hier bei uns, eine Institution, wo man seine historische Neugier befriedigen konnte – sei es als Wissenschaftlicher, Journalist, Dramaturg oder Privatperson – oder wohin man sich wenden konnte, wollte man seine Sammlung aufgeben, oder wenn man auf der Suche nach der richtigen Stelle für einen persönlichen, künstlerischen Nachlass war. Eine Einrichtung zudem, die selbstständig oder in Kooperation mit anderen Institutionen wie Theatern, Universitäten und Hochschulen die Kenntnisse und Erkenntnisse über das Musical erweitert.

Die Idee entstand eigentlich aus einem Ärgernis. Bei den Recherchen für meine Publikation “Cats & Co. – Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater” bin ich notwendigerweise viel unterwegs gewesen, um das Material zu recherchieren. Immer wieder musste ich enttäuscht feststellen, wie wenig Beachtung der Gattung Musical zugebilligt wurde. Es war mitunter nachvollziehbar, weil städtische Archive einen anderen Auftrag haben. Doch voller Neid begann ich auf die Spezialsammlungen aus anderen Bereichen des darstellenden Spiels zu blicken, wie Tanzarchiv oder Kabarettarchiv. So etwa müsste es für das Musical auch geben, ging mir immer wieder durch den Kopf.

Also begann ich mit Kollegen und Freunden darüber zu reden. Schnell wurde klar: Nicht nur ich hatte Bedarf nach einer solchen Einrichtung. Darüber hinaus waren wir uns einig, dass ein Musicalarchiv nur Sinn macht, wenn es in öffentlicher Verwaltung ist. Denn nur dort ist die Gewähr für eine sachgerechte und dauerhafte Bewahrung der Materialien gewährleistet. Doch damit war auch ein Problem benannt. Denn angesichts der allgemein desolaten öffentlichen Finanzen schien es eher unwahrscheinlich, dass man irgendwo ein neues Archiv einrichten könnte, noch dazu für eine hierzulande künstlerisch kaum ernstgenommene Gattung wie dem Musical. Doch – ich will nicht alle Stationen und Gespräche hier nennen, die folgten – heute können wir sagen: Es gibt das Deutsche Musicalarchiv. Es ist ab sofort dem Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg zugeordnet, das demnächst in Forschungszentrum populäre Kultur und Musik umbenannt werden soll. Das Deutsche Musicalarchiv behält seinen eigenständigen Namen.

Momentan sollen persönliche Recherchen im Deutschen Musicalarchiv noch nicht möglich sein. Zu welchem Zweck wurde das Archiv dann gegründet? Sollte es nicht eher ein Anliegen sein, die umfangreiche Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?

Momentan existiert für das Musicalarchiv eine Übergangssituation. Der Großteil meiner Sammlung ist in Freiburg eingelagert und steht bereits der allgemeinen Nutzung zur Verfügung. Für den Initiativverein, der für die Gründungsgespräche notwendig war, hatten sich drei private Sammler – Klaus Baberg, Frank Wesner und ich – verbunden. Diese Bestände waren bislang direkt nicht zugänglich, sondern nur auf Anfrage. Da der Initiativverein inzwischen seine Aufgabe, die Gründung des öffentlichen Archivs, erfüllt hat, haben die Mitglieder kürzlich die Auflösung beschlossen. In der Vorbereitung befindet sich die Gründung eines Freundes- und Förderkreises für das staatliche Deutsche Musicalarchiv, von dem wir hoffen, dass er aus der Musicalwelt die Unterstützung erhält, die er verdient.

Das Musicalgenre wird immer wieder etwas stiefmütterlich behandelt. Schließlich gibt es in etlichen Städten sogar eigene Theatermuseen, während man ein Musicalmuseum vergeblich sucht. Könnte das Deutsche Musicalarchiv ein erster Schritt in diese Richtung sein?

Offen gesagt ist mir gar nicht so klar, worin ein Musicalmuseum sich qualitativ von den Möglichkeiten eines Musicalarchivs – in der Kombination von Sammlung, Archivierung, Forschung und öffentliche Veranstaltungen – abhebt. Ganz davon abgesehen, dass Museen noch teurer sind als Archive. Aber warten wir doch erst einmal ab. Es ist mit der Gründung des Musicalarchivs gleichsam ein Stein ins Rollen gebracht worden. Jetzt muss sich zeigen, welche Dynamik es entwickeln kann. Ich bin da ganz zuversichtlich.

Im Frühjahr 2011 soll das Deutsche Musicalarchiv in das Volksliedarchiv in Freiburg integriert werden. Was genau hat es damit auf sich, und passen Musicals thematisch überhaupt zu Volksliedern?

Für das Jahr 2011 ist die offizielle Eröffnung in einem Festakt angedacht. Dieser Termin hängt unter anderem auch mit dem Bezug neuer Räumlichkeiten zusammen. Die aktuellen Bestände sind wie gesagt bereits jetzt einsehbar.

Das Volksliedarchiv ist eine traditionsreiche staatliche Einrichtung des Landes Baden-Württemberg. Der Name geht auf den Gründungsimpuls zurück. Er zielte damals auf das Liedgut, das im Volk gesungen wurde. Heute würde man eher von Popmusik reden – jene musikalischen Erzeugnisse also, die nicht der Hochkultur zugerechnet werden. Und in diesem Sinne wird das Volksliedarchiv seit langer Zeit geführt, ohne bislang die Bezeichnung zu ändern. Dies steht nunmehr auf der Agenda. Mit der Integration des Deutschen Musicalarchivs erweitert die Freiburger Einrichtung noch einmal ihren Sammel- und Forschungsschwerpunkt. Das populäre Liedgut wird nunmehr auch erweitert um den Bereich des populären Musiktheaters. Das ist wunderbar. Denn bekanntlich sind eine endlose Zahl von Songs aus Musicals ausgekoppelt worden und beispielsweise zu Jazz-Standards geworden. Man denke nur an Cole Porter, George Gershwin oder auch Andrew Lloyd Webber.

Auch künstlerisch liegen die Bereiche sehr nahe beieinander. Man kann beispielsweise an Udo Jürgens denken, an Michael Kunze, oder an Lotar Olias, die sich künstlerisch sowohl im Theater wie auch in der Popmusik mit Erfolg betätigen oder betätigten. Insofern halte ich die Anbindung für geradezu ideal. Und es kommt noch ein anderer Umstand hinzu: Freiburg ist auf der Musical-Landkarte ein gleichsam neutraler Ort. Er ist damit von keiner lokalen Szene vereinnahmt. Und im Dreiländereck spricht alles dafür, dass das Musicalarchiv von den Deutschen, Schweizern und Österreichern gleichermaßen angenommen wird.

Ihre eigene Sammlung beinhaltet rund 2.500 Musical-Programmhefte. Haben sie diese nach Musicalbesuchen alle selbst gekauft oder auch später noch zugekauft?

Natürlich stammen die Programmhefte nicht alle von eigenen Musicalbesuchen. Obwohl ich schon zugegen muss, viel im Theater zu sein. Gerade bei den Programmen aus früheren Zeiten, als man selbst noch nicht zu den Theatergängern gehörte, muss man zwangsläufig seine Sammlung durch Ankäufe erweitern. Dabei erhielt ich natürlich immer wieder Exemplare von Aufführungen, die geschichtlich nicht unbedingt spannend sind. Aber ich hatte auch das Glück, hin und wieder auf Exemplare von Ur- oder Erstaufführungen zu stoßen. Diese haben mich am meisten interessiert.

Wie sind Sie zu Ihrer Sammelleidenschaft gekommen? Und vor allem: Wo bringt eine Privatperson solch eine Sammlung unter? Doch nicht im heimischen Buchregal, oder?

Wie entsteht Sammelleidenschaft? Ich glaube, dies ist bei vielen Sammlern ganz unterschiedlich. Bei mir war es eher Zufall. Ich bin ja promovierter Theaterwissenschaftler. Und im Zuge meiner Forschungen begann ich mich schon früh auf die Formen des unterhaltenden Musiktheaters – Revue, Varieté und Operette – zu konzentrieren. Musical kam erst später hinzu. Ich recherchierte damals zur Ausstattungsrevue der 1920er Jahre Inszenierungen, die dazu beitrugen, dem Jahrzehnt den Stempel der Roaring Twenties aufzudrücken. Die tatsächlichen Aufführungen, ihre Dramaturgie, war seinerzeit noch völlig unbekannt. Ich versuchte also, die jeweiligen Produktionen zu rekonstruieren. Dafür war ich auf der Suche nach Abbildungen, Programmheften und Regieunterlagen – und dann wurde mir zum ersten Mal ein Konvolut von seltenen Revue-Programmheften angeboten. Prachtvolle Stücke! Großartig. Exemplare, die ich in den öffentlichen Archiven bislang nicht gefunden hatte. Natürlich habe ich gekauft, zunächst noch unter dem Gesichtspunkt, sie auswerten zu wollen. Heute scheint mir die Begebenheit eher der Beginn meiner Theatersammlung zu sein.

Wenn man anfängt – das wird jeder Sammler bestätigen – ist die Unterbringung kein Problem. Im Schrank, im Regal, unter dem Bett. Doch ab einer gewissen Menge kann eine Sammlung dominierende Züge annehmen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich darüber nachdachte, im Badezimmer Regale einzuziehen – und meine Frau protestierte. Seit Jahren habe ich jedoch separate, ausreichend große Räume.

Wenn man sich die Musical-Großproduktionen in letzter Zeit ansieht, neigen diese eher zu seichten Themen. Ist die Zeit der großen dramatischen Musicals, wie wir sie in den 1980er und 1990er Jahren erlebten, etwa vorbei?

Grundsätzlich unterliegt das Musical, wie jede andere lebendige Kunstform auch, ästhetischen Veränderungen. Was immer wir zum jeweils aktuellen Spielplanangebot auch meinen, sicher können wir uns nur darin sein: So, wie es ist, bleibt es nicht. Man tut also gut daran, wenn man sich als Zuschauer, als Freund bestimmter Werke oder Stile, vor Augen hält, dass man es jeweils mit bestimmten Trends, Phasen zu tun hat, die mitunter sich zu einer Ära aufschwingen. Wenn wir uns also die letzten drei Jahrzehnte ansehen, dann können wir doch drei ziemlich deutlich zu trennende Zeitphasen unterscheiden. Blicken wir in die 1990er Jahre, dann herrscht im Musical eine Endzeitstimmung – ein vergleichbar düsteres Jahrzehnt hat es in der Gattungsgeschichte noch nie zuvor gegeben. Immerzu geht die Welt unter, spielen die Geschichten im Totenreich, nehmen die Plots die denkbar schlechteste Wendung. Noch nie wurde auf der Musicalbühne so viel gestorben wie in den 1990er Jahren. Ein neues Fin de siecle nach meiner Auffassung. Man denke an “Assassins”, “Titanic”, “Elisabeth” oder das hierzulande noch immer ungespielte “Floyd Collins”.

Nachdem die Jahrtausendwende glücklich überstanden war, die Computer weltweit nicht abstürzten – Sie erinnern sich? – und das Chaos ausblieb, konnte man gleichsam aufatmen. Und das erste Stück, das ein neues Musical-Jahrzehnt einläutete, war meines Erachtens “Urine Town”, eine finstere negative Utopie, in der die Düsternis jedoch ironisch aufbereitet wird, Grund zum Lachen gab. Die 2000er Jahre weckten eine neue Lachlust im Theater. Diese war in den 1990er Jahren völlig abhanden gekommen. Im Gegensatz aber zu anderen Komödienjahrzehnten des Musicals wie etwa den 1940er Jahren, sind die aktuellen neuen Stücke jedoch ironisch, selbstbezüglich, treiben mit den eigenen Gattungsklischees ihren Spaß. “We will rock You” beispielsweise ist ja keine Geschichte, die sich selbst ernst nimmt. Oder “Der Schuh des Manitu”. Es lassen sich also jeweils deutliche Unterschiede erkennen, wenn man nach den dominierenden Stoffen fragt. Da solche Trends aber in der Regel rund ein Jahrzehnt anhalten, darf man allmählich gespannt sein, was als Nächstes kommt.

Während das Musical im angloamerikanischen Raum durchaus eine ernst zu nehmende Gattung darstellt, gilt es im deutschsprachigen Raum eher als leichte Muse. Was muss getan werden, um dies zu ändern?

Na ja, auch die Amerikaner und Briten unterscheiden zwischen Musical und Oper, zwischen Popkonzert und Philharmonie, zwischen Broadway und Metropolitan Opera. Auch für sie gibt es Unterschiede in der künstlerischen Wertigkeit. Freilich sind die Amerikaner etwas entspannter im Umgang mit den kommerziellen Produkten des Broadways. Erklären lässt es sich durch die Geschichte des Landes: Die Einwanderer brachten ihre jeweilige landestypische Musik mit, die sich dann vermischte. Da jedoch durchweg Menschen aus einfachen Verhältnissen auswanderten, nahmen sie auch überwiegend populäre Melodien mit. So wie die USA keine Adelsgesellschaft entwickelten, so entstand dort auch keine so ausgeprägte künstlerische Wertepyramide wie im alten Europa. Umgekehrt basiert die hiesige Unterscheidung von E- und U-Musik (E= Ernste Musik, U=Unterhaltende Musik, Anm. d. Redaktion) auf kulturellen Traditionen, die bis in die Spätantike zurückreichen. Bereits die frühen Kirchenväter haben zwischen gottgefälliger Musik und Musikern und verwerflicher, weltlicher Musik und Musikern unterschieden. Das prägt unser Denken immer noch, auch wenn es eher unbewusst geschieht.

Insofern glaube ich kaum, dass diese Unterscheidung aufgehoben werden kann. Sie wäre meines Erachtens für die Musicalpraxis auch unerheblich. Es würde doch kein einziges Werk zusätzlich entstehen, wenn man sich auf so etwas verständigen würde. Wer sollte auch darüber befinden? Zudem gibt es ja tatsächlich in der Ästhetik der Werke Merkmale, die auf eine unterschiedliche Wirkungsweise hindeuten. Warum diese leugnen? Warum sich gar die Sichtweise der dogmatischen Vertreter der E-Kultur zu eigen machen? Ich habe schon vor Jahren aufgehört, mich an dieser Diskussion zu beteiligen. Sie ist fruchtlos. Es kommt vielmehr darauf an, die Eigenheiten des Musicals als ästhetische Form in aller Deutlichkeit herauszustellen. Und an Selbstbewusstsein muss es uns angesichts der Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten ja nun wirklich nicht mangeln.

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