Revivals und Originale

13 neue Produktionen am Broadway, elf neue Shows im West End: Das klingt erst einmal nach einer relativ ausgeglichenen Bilanz im Jahr 2009. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten des Broadway.

Unter den 13 Shows, die in New York im Lauf des Jahres eröffneten, sind sieben Revivals. Den Anfang machten “Guys & Dolls”, “West Side Story” und “Hair”. “Guys & Dolls” wurde von Presse und Publikum gleichermaßen schlecht angenommen, so dass die Produktion nach gut vier Monaten schon wieder verschwand. Die anderen beiden Revivals starteten hingegen mit vielversprechenden Auslastungszahlen, und das, obwohl die “West Side Story” nur verhaltene Kritiken bekam und die im Laufe des Jahres wieder revidierte Entscheidung, mehrere Szenen in Spanisch zu spielen, nicht nur auf Gegenliebe beim Publikum stieß. Beide Shows zeigten jedoch einen ungewöhnlichen Rückgang der Zuschauerzahlen ab Herbst. Üblicherweise steigen die Auslastungen der Broadway-Shows bis zum Jahreswechsel kontinuierlich. “West Side Story” und “Hair” schienen aber den Höhepunkt der Zuschauer-Nachfrage bereits im ersten Halbjahr erreicht zu haben.
Die seichte Rock’n-Roll-Komödie “Bye Bye Birdie” konnte kaum einen Kritiker überzeugen, der Prominenz des aus dem Fernsehen bekannten Hauptdarstelles John Stamos und der von vornherein begrenzten Laufzeit ist es wohl zu verdanken, dass diese Show trotzdem zu den vier am besten ausgelasteten Musicals des Jahres zählt.
Star-Power dürfte auch dem zum Ende des Jahres gestarteten Revival “A Little Night Music” zu finanziellen Erfolgen verhelfen. Die niemals seichten Musicals von Stephen Sondheim haben es bekanntlich schwer, am Broadway lange zu überleben. Doch der Coup, Catherine Zeta-Jones und Angela Lansbury an die Spitze des Ensembles zu stellen, dürfte sich für die Produzenten auszahlen.
Die beiden im Herbst gestarteten Revivals “Finians Rainbow” und “Ragtime” kämpfen, so gut gemacht die Shows auch sind, mit den gleichen Problemen: Beide Shows gehören nicht zu den allseits bekannten Musical-Evergreens (wie “West Side Story” und “Hair”), sie haben keine überregional bekannten Stars im Ensemble (wie “Bye Bye Birdie” und “A Little Night Music”), und so kommen trotz vorwiegend positiver Kritiken einfach nicht genügend der für das Überleben einer Show unerlässlichen zahlenden Zuschauer.

In London gingen in der Revival-Kategorie 2009 vier Produktionen an den Start. “Oliver” legte zum Anfang des Jahres einen Bombenstart hin. Eine hohe mediale Aufmerksamkeit dank der beiden Hauptdarsteller – als Fagin wurde der weltweit bekannte Komiker Rowan Atkinson (“Mr. Bean”) verpflichtet , während Nancy-Darstellerin Jodie Prenger den Job durch eine Casting-Show bekam -, ein großes Ensemble sowie beeindruckende Bühnenbilder sorgten für glänzende Vorverkaufsergebnisse. Damit überstrahlte “Oliver” alle weiteren Revivals: Die 60er-Jahre-Compilation-Show “Shout” überlebte nicht einmal eine Woche nach der Premiere und auch die seit Jahren weltweit tourende “Rat-Pack”-Show erlangte keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Einzig “A Little Night Music” ist hier noch erwähnenswert. Die Inszenierung, die später mit Catherine Zeta-Jones auch am Broadway herauskam (s.o.), fand ihren Ursprung im kleinen Off-Theater der Menier Chocolate Factory und wurde im Frühjahr ins West End transferiert. Doch auch hier zeigte sich das übliche Dilemma der Sondheim-Musicals: Sie sind einfach nicht für die große Masse geschrieben. Sowohl Inszenierung als auch Darsteller wurden hoch gelobt, doch nach knapp vier Monaten im West End war Schluss. Im Londoner Ensemble waren keine außerhalb der Musical-Szene bekannten Namen. Umso nachvollziehbarer, dass dann die Broadway-Produzenten auf Star-Power gesetzt haben.

Im Gegensatz zu den Trends der letzten Jahre befindet sich unter den sechs Broadway-Uraufführungen des Jahres nur eine einzige Film-Adaption, die dann auch gleich zu einem der Flops des Jahres wurde. Eine Erklärung dafür, warum “9 to 5” beim Publikum durchgefallen ist, ist kaum zu finden. Sowohl Ensemble als auch Musik erhielten übereinstimmend Zustimmung und mit der bekannten Country-Sängerin Dolly Parton als Komponistin stand auch ein werbewirksamer Name über der Produktion.
Die restlichen fünf Premieren basieren auf Originalbüchern. In der ersten Hälfte des Jahres starteten die Kammermusicals “The Story of My Life” und “Next to Normal” sowie die Compilation-Show “Rock of Ages”. Kammermusicals sind bekanntlich immer so eine Sache am Broadway. Mit kleiner Cast und sparsamen Bühnenbild, jedoch ähnlich hohen Eintrittspreisen wie alle anderen Shows, ist der Konkurrenzkampf doppelt hoch. Und so musste das Zwei-Personen-Stück “The Story of My Life” nur drei Tage nach der Premiere das Feld wieder räumen. “Next to Normal” hingegen schlägt sich wacker am Broadway. Das liegt zum einen sicher an der ungewöhnlichen Geschichte über eine Familie, die mit der psychischen Krankheit der Mutter klarkommen muss, zum anderen aber auch an den allseits gelobten Darstellern, allen voran die diesjährige Tony-Award-Gewinnerin Alice Ripley. Darüber hinaus wurden aber auch neue Wege gewählt, um die Show im Gespräch zu halten: eine beispiellose Twitter-Kampagne, die eine knappe Million Teilnehmer verfolgten, gab interessierten Usern Hintergrundinformationen und die interaktive Möglichkeit, einen Song mitzugestalten, den das Komponisten-Team der Show ganz nach User-Vorschlägen schrieb und der dann konzertant von den Broadway-Darstellern in New York vorgestellt wurde.
Auch “Rock of Ages” darf zu den Hits 2009 gezählt werden. Wie viele ihrer Compilation-Vorgänger bietet die Show eine eher belanglose Handlung, kann jedoch mit dem Ohwurm-Charakter der Songs – in diesem Fall Bombast-Rock der 1980er Jahre – und der daraus resultierenden Party-Stimmung im Publikum punkten.
Im Herbst eröffneten “Memphis” und “Fela!” am Broadway, die sich beide mit dem Thema Rassendiskrimierung auseinandersetzen. “Memphis” erzählt mit neu komponierten Rock’n-Roll-Songs und Balladen von der Beziehung eines hellhäutigen Moderators zu einer afroamerikanischen Sängerin, die in den 1950er Jahren ihr Umfeld provoziert. “Fela!” ist ein Biographie-Musical über den afrikanischen Musiker und Polit-Aktivisten Fela Kuti, dessen Geschichte mit seiner eigenen Musik im von ihm geprägten Afrobeat-Stil erzählt wird. Während “Memphis” ein augesprochen gut gemachtes, aber dennoch herkömmliches Broadway-Musical ist, gehört “Fela!” eher in die Nische der Broadway-Sonderlinge: eine außergewöhnliche Geschichte, die mit extravaganten Choreografien und einer zwischen Konzert und Musiktheater pendelnden Erzählform etwas ganz Eigenes am Broadway darstellt. Nach den ersten Wochen der Spielzeit haben beide Shows noch damit zu kämpfen, ausreichend Zuschauer zu gewinnen. Bleibt zu hoffen, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert, um den Bekanntheitsgrad schleunigst zu steigern.

Auf solche Original-Musicals wartet der Londoner Musical-Fan im vergangenen Jahr nahezu vergeblich. Die beiden größten Londoner Erstaufführungen sind Film-Adaptionen. Im März feiert die aus Australien importierte Show “Priscilla – Queen of the Desert” Premiere, im Juni startet “Sister Act” im Palladium – zwei Komödien, die beide ihre Zuschauer nach zweieinhalb Stunden voller poppiger Rhythmen und glitzernder Kostüme gut gelaunt und beschwingt entlassen. Genaue Informationen über Verkaufszahlen gibt es aus London nicht, doch sowohl die Gerüchteküche, in der bereits über vermeintliche Nachfolger im Palladium diskutiert wird, als auch die Tatsache, dass für “Sister Act” regelmäßig Half-Price-Tickets zu haben sind, während solche Angebote für “Priscilla” kaum zu finden sind, sprechen dafür, dass “Priscilla” aus dem Kampf um die Publikumsgunst als Sieger hervorgeht.
Die weiteren Londoner Premieren sind allesamt ein ganzes Stück kleiner gehalten. Der Broadway-Transfer “Spring Awakening” konnte das relativ kleine Lyric Hammersmith Theatre zwar für sieben Wochen füllen, der Traum einer Open-End-Spielzeit im West End war jedoch trotz des Lobes für die junge unverbrauchte Cast schon nach zwei Monaten zu Ende.
“Too Close to the Sun”, ein Musical über das letzte Lebensjahr des Schriftstellers Ernest Hemingway, ist das einzige Stück ohne Film-, Buch- oder Musik-Zweitverwertung. Einhellig vernichtende Kritiken sorgten für ein schnelles Ende der Produktion, über die auch an dieser Stelle kein weiteres Wort verloren werden muss.
Als neue Compilation-Show kam im Sommer “Dreamboats & Petticoats” für drei Monate ins West End. Interessant ist an dem Musical die Entstehungsgeschichte: Erst gab es die gleichnamige Compilation-CD mit Hits der 1960er Jahre, die sich erstaunlich gut in Großbritannien verkaufte. Daraufhin kam ein findiges Produzententeam auf die Idee, daraus ein Musical zu machen. Die drei Monate in London verliefen anscheinend recht erfolgreich, denn im Januar kehrt die Show für eine Open-End-Spielzeit ins West End zurück.
Im Dezember eröffneten eine themenbedingt nur als Saison-Show geplante neue Adaption von Charles Dickens’ “A Christmas Carol” und der auch wieder auf einem Film basierende Broadway-Transfer “Legally Blonde”, der in New York zwar kein Riesenhit, aber immerhin für eineinhalb Jahre zu sehen war und stimmungsmäßig mit bunten Bildern und einer lockeren Kömodienhandlung in genau die gleiche Kerbe schlägt wie “Sister Act” und “Priscilla”.

Große Erfolge feiern in beiden Musical-Metropolen also vor allem Revivals wie “West Side Story” in New York und “Oliver” in London. Vor allem in der Londoner Musical-Szene gelingt es unbekannten Kreativen zurzeit gar nicht, frische Ideen für unverbrauchte Stoffe hervorzubringen. Es steht außer Frage, dass es diese Kreativen auch in Großbritannien gibt; mehrere Konzerte bzw. Workshop-Präsentationen in kleinem Rahmen haben gezeigt, dass sehr wohl Potenzial vorhanden ist. Doch den alteingesessenen Produzenten scheint das Risiko, einen Flop landen zu können, einfach zu groß zu sein. Lieber holen sie “Priscilla” aus Australien oder den “Sister-Act”-Komponisten Alan Menken aus den USA.
Insofern hat der Broadway in puncto Vielfalt deutlich die Nase vorn. Praktisch in jedem Jahr sind neue Namen unter den erfolgreichen Kreativen zu finden. 2009 gehören dazu z.B. Tom Kitt und Brian Yorkey, deren Drama “Next to Normal” genauso als Überrschaschung angesehen werden darf wie die innovative “Ragtime”-Inszenierung der US-weit tätigen und endlich am Broadway angekommenen Marcia Milgrom Dodge.
Ein Ausblick auf das Musical-Jahr 2010 macht aber für beide Städte Lust auf einen Musical-Trip. Da David Essex, der die Songs in “All the Fun of the Fair” (Premiere: 28. April) geschrieben hat, in Deutschland kaum bekannt ist, dürfte die Verwertung seiner mehr als 30 Jahre alten Songs kaum mit dem üblichen Compilation-Charakter zu vergleichen sein. Mit dem glänzend kritisierten “Hair”-Revival (Premiere: 14. April) kommt auch die gesamte hochgelobte Broadway-Besetzung nach London, und mit “Love Never Dies” (Premiere: 9. März) bringt Altmeister Andrew Lloyd Webber seine lang angekündigte Phantom-Fortsetzung auf den Markt.
Sein Namensvetter Andrew Lippa, der in New York den Geheimtipp-Status eigentlich schon längst hinter sich gelassen hat, darf mit der “Addams Family” (Premiere: 8. April) endlich auf den großen Durchbruch hoffen; kurz danach kommt ein groß angelegtes und prominent besetztes Revival der über 40 Jahre alten Show “Promises, Promises” (Premiere: 25. April) auf die Bühne, bei dem sich das Kreativ-Team hoffentlich des antiquiert wirkenden Buches annehmen wird. Die spannendste Frage dürfte aber sein, ob “Spiderman – Turn Off the Dark” tatsächlich, wie bisher trotz aller Finanzierungsprobleme geplant, im nächsten Jahr uraugeführt wird. Selten gingen bei einem Stück die Spekulationen über Flop oder Top so weit auseinander wie bei diesem mit einem Riesen-Budget ausgestatteten Mega-Musical.

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