Keine grauen Bärte ins Gesicht

Nach dem Ende der Berliner En-Suite-Produktion sind die Rechte für “Les Misérables” wieder frei. Das kleine Stadttheater Lüneburg wagt sich an das Revolutionsepos und gewährt einen Einblick in die erste Durchlaufprobe.

“Wir haben noch kein Klavier!” Regisseurin Helga Wolf steht inmitten des Trubels auf der Bühne des Lüneburger Stadttheaters und hält Ausschau nach dem für die erste Durchlaufprobe von „Les Misérables” so dringend benötigten Instrument. “Wir setzen das Stück heute das erste Mal komplett zusammen, allerdings nur mit Pianobegleitung und noch ohne Licht, Ton und Kostüme.”
Valjean-Darsteller Alexander Di Capri probiert noch schnell seinen Mantel an – “Bitte noch so etwa 20 cm kürzen!” – und vertreibt sich die Wartezeit mit ein paar Liegestützen. Valerie Link und Stephanie Sturm, später als Cosette und Eponine auf der Bühne, haben es sich unterdessen in der ersten Reihe bequem gemacht und verfolgen in Ruhe das Gewusel von Darstellern, Technikern und Chormitgliedern.
Wenig später ist das lang erwartete Instrument da und Regisseurin Wolf gibt das Startsignal für den ersten Akt. Gespannt verfolgt sie vom Regiepult in Reihe 8 das Bühnengeschehen und flüstert ihrer Assistentin kurze Bemerkungen zu, die sofort im Regiebuch vermerkt werden.

Die Bühne ist sparsam ausgestattet, nur ein großes Hintergrundportal und vier fahrbahre Brückenteile bilden das Grundbühnenbild.
“Man darf eine so kleine Bühne nicht so zustellen”, erläutert Helga Wolf ihren Ansatz. “Ich muss zu jeder Zeit die Bühnentiefe ausnutzen können und es darf nicht zu viel Herumgefahre werden, die Bühnenbewegungen dürfen nicht von der Konzentration auf die Darsteller ablenken.”
Gleichzeitig, so Wolf, sei die recht schmale Bühne aber auch ein Vorteil für die Inszenierung von Massenszenen, die hier gleich wesentlich mächtiger wirkten.

In Lüneburg stehen neben hinzugecasteten Musicaldarstellern auch einige Ensemblemitglieder des Theaters und der hauseigene Extrachor auf der Bühne.
“Schon eine spannende Erfahrung, das zu beobachten”, kommentiert der En-Suite-erfahrene Alexander Di Capri, “so ein Opernchor bewegt sich ganz anders auf der Bühne, als ich es bisher kannte.”
Stephanie Sturm, ebenfalls in Lüneburg erstmals an einem Stadttheater dabei, pflichtet ihm bei: “Schon strange die Arbeit hier, auch für die Chorleute und die Techniker. Gestern Zauberflöte, heute LesMiz, dieser ständige Wechsel, auf den sie sich einstellen müssen.”

Unterdessen ist auf der Bühne der erste Akt weiter fortgeschritten, außer einem unplanmäßig in einem Säulenbogen steckengebliebenen Fantine-Bett läuft die Probe ohne wesentliche Unterbrechungen. Im Zuschauerraum herrscht ständiges Kommen und Gehen, wer gerade nicht auf der Bühne gebraucht wird, will so viel wie möglich vom Stück sehen.
“Die Valjean-Rolle ist überhaupt nicht abgespielt”, stellt Di Capri klar, “für mich ist das eine absolute Traumrolle, konditionell irrsinnig anstrengend, aber geil!”
Valerie Link, die schon im Berliner Theater des Westens als Cosette zu sehen war, ergänzt: “Ich erarbeite hier die Rolle für mich noch einmal ganz neu. Helga Wolf will die Cosette nicht so lieblich und träumerisch, sondern ernster haben.”
Übereinstimmend loben die Darsteller die Präzision und Detailgenauigkeit, mit der die Regisseurin agiert. “Es gibt keine Rolle, über die sie nicht genauestens Bescheid wüsste”, bewundert Marius-Darsteller Kristian Lucas ihre Stückkenntnis. “Und wenn sie ein Detail aus dem Buch gerade nicht parat hat, liefert sie am nächsten Tag die Antwort nach.”

Nach beinahe planmäßigen eineinhalb Stunden ist der erste Akt abgespielt und Helga Wolf verkündet eine zwanzigminütige Pause für alle Akteure.
“Ich liebe dieses Musical sehr”, bekennt sie. “Und ich habe einen irrsinnigen Respekt vor dem Stück. Der gebietet mir, werkgetreu und sehr nah an der Vorlage zu inszenieren.”
Wie alle Les Misérables-Produktionen weltweit wird auch Lüneburg vom Rechteinhaber Cameron Mackintosh streng überwacht.
“Die wollten vorher das Regiekonzept und alle Bühnenbild- und Kostümentwürfe sehen”, erzählt Kristian Lucas. Auch die Besetzung und viele Details bis hin zur Plakatgestaltung sind mit den Briten abgestimmt. Trotzdem darf nichts der Ur-Inszenierung gleichen. “Aber den Geist des Stückes muss ich schon einfangen”, sagt die Regisseurin und kündigt verschmitzt lächelnd einen bartlosen Valjean an: “Ich halte nichts davon, jungen Leuten graue Bärte ins Gesicht zu kleben!”

Natürlich fehlen in der Inszenierung auch die Barrikaden nicht, stadttheaterkompatibel verkleinert, aber dennoch wirkungsvoll. In der Durchlaufprobe wird der Schlachtenlärm erstmal nur von einem einem einsamen Piano dargestellt und auch die Revolutionäre treten noch in neuzeitlicher Freizeitkleidung auf.
Mucksmäuschenstill wird es im Saal, als Alexander Di Capri auf der Barrikade sitzend sein “Bring ihn heim” anstimmt.
“Es ist einfach wundervolle Musik”, schwärmt die Regisseurin vom Gesamtwerk. “Eine Riesen-Herausforderung für so ein kleines Theater. Wir machen das hier mit auf der Bühne mit 35 Leuten und mit voller Originalbesetzung im Orchestergraben.”
Dort steht in der Durchlaufprobe neben dem Piano einsam der musikalische Leiter und nutzt die Gelegenheit, das Stück – wenn auch nur mit einem imaginären Orchester – ein erstes Mal komplett durchzudirigieren.
“Da muss erst der Stuhl stehen, dann geht es musikalisch weiter!” tönt es vom Regieplatz. Jede Änderung, jede Anmerkung wird auch in der Partitur des Dirigenten vermerkt.
Dass der Chor beim Ensemblefinale noch nicht ganz textsicher daherkommt und sich ein Berg von Schlacht-Toten noch sehr lebendig bewegt, kann Helga Wolf in diesem Probenstadium nicht schocken.

“Danke für die Probe. Kritik machen wir morgen!” entlässt sie das Ensemble gegen 23 Uhr in den verdienten Feierabend und wendet sich ihrer Assistentin zu, um noch einmal kurz die Eindrücke des Abends durchzugehen.
“Wir haben hier nur sehr wenige gemeinsame Arbeitsmöglichkeiten, weil einige von uns vielfach tagsüber hier proben und abends in Hamburg bei “Mamma Mia” oder “Tanz der Vampire” auf der Bühne stehen, während die Chorleute natürlich tagsüber normal arbeiten müssen und nur abends proben können.”, erzählt Valerie Link auf dem Weg zum Auto zur nächtlichen Rücktour nach Hamburg.
“Trotzdem hat’s doch für einen ersten Durchlauf schon ziemlich gut hingehauen. Ich glaube, das wird richtig schön!”

Overlay