Johnny_Depp
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05.10.08 09:21 Guten Morgen, die Damen und Herren. Es folgt ein inoffizieller Bericht von der gestrigen Medienpremiere von "Ich will Spass" in Essen. Möchte dazu fairheitshalber vorausschicken dass ich meine Karten nicht bezahlt habe und mein Urteil weniger milde ausfallen würde, wenn ich die 70-90 Euro hingelegt hätte, die Normalsterbliche für diese Karten müssen. Und wenn ich mir nicht in weiser Voraussicht vorher vier Gläser Sekt in den Hals geschüttet hätte. Das nur nebenbei. *hust*
Ganz klar und völlig unironisch auf der Habenseite: Das faszinierende Zauberwürfel-Bühnenbild und die Darsteller. Echt, von dem Zauberwürfel war ich begeistert. Wenn in einer Wohnung etwas passierte, konnte man trotzdem in den anderen Wohnungen "Leute gucken" - und wer glotzt nicht mal gerne beim Nachbarn rein? Auch die zahllosen liebevollen 80'er-Details machten Laune. Wenn ein viel zu Dialog mich zum Schlafen bringen drohte, konnte ich mir immer wieder die Zimmer angucken und was da so rumhing und -stand.
Dann die Darsteller: Grade nach der Debatte hier war ich sehr froh, dass hier einer handvoll einheimischer junger Talente eine Chance gegeben wurde, wobei Leila Vallio als Rosi für mich DIE Entdeckung war. Herrlich doof das Mädel, mir kamen soviele Erinnerungen an Mädels zurück, die ich kannte... Claudia Stangls Hippiemutter Flora wirkte zwar auf mich als wäre Donna von ihrer griechischen Insel in den Ruhrpott umgezogen, aber sie gefiel mir ebenfalls großartig und machte mit Cusch Jung das dämliche "Codo" zu einem echten Comedy-Highlight. Ach Cusch Jung. Was hat er mir erst leid getan, dass jemand der früher zu Helmut Baumanns Starriege im Theater des Westens gehörte jetzt so einen Unfug wie das noch dämlichere "Bruttosozialprodukt" von Geier Sturzflug singen musste. Aber mit seinem verklemmt-spießigen Herbert der bei Flora Freiheit wittert wurde er schnell zum Publikumsliebling. Sonja Herrmann als seine verhuschte Hausmütterchen-Ehefrau Doris war so richtig aus dem echten Leben raus und ebenfalls urkomisch, wenn sie schließlich mit "Ich will Spass!" loslegt. Etwas blass blieben daneben Romina Langenhan als Cleo und Michael Eisenburger als Ritch mit ihrer Klischee-Liebesgeschichte. Was aber m.E. weniger an den Darstellern lag als am Buch, das den beiden kaum Entwicklungspotenzial gab. Die freche Göre, die -ooopsala- schwanger wird, der coole Macho, der sich mit seinem früh abgehauenen und jetzt zurückgekehrten Vater versöhnt (der dann schön klischeemäßig das zeitliche segnet) - gähn. Gerade letzteres war einfach nur noch überflüssig und ich hab geistig abgeschaltet und angefangen vom Doppelwhopper mit Käse zu träumen, der nach der Vorstellung beim BK um die Ecke auf mich wartete.
Kommen wir zum großen Schwachpunkt: Wie meistens - das Buch. Zuerstmal ist die Show VIEL ZU LANG. Drei Stunden! Für eine Handlung, die auf eine Briefmarke passt. Da müsste noch einiges gekürzt werden. Zumal die normalen Vorstellungen erst um 20.00 Uhr anfangen - welcher Berufstätige, der nachher noch nach Hause fahren muß, will da bis 11 im Theater sitzen? Die NDW-Songs sind zu platt um irgendwie große Emotionen zu vermitteln, es bleibt bei Comedy und es gibt keine so emotionalen Momente wo die Songs dicht bei den Figuren sind wie "The winner takes it all" in Mamma mia oder "Only the good die young" in WWRY. Was mir dagegen gut gefallen hat, war, dass die Show auch genau in der Zeit spielt, als die Lieder Hits waren. Die authentischen Kostüme waren so perfekt wie das Bühnenbild, ich habe mich oft genug köstlich amüsiert weil mir alles so bekannt vorkam oder mich der Anblick eines Darstellers an alte Bekannte aus der Zeit erinnerte. Aber da liegt eben auch das große Manko: Mit den Songs und Figuren aus Mamma mia und WWRY (um diese Shows als Vergleich herzuziehen) kann sich jeder identifizieren, diese Musik hat alles überlebt. Die NDW-Phase war kurz und hat wirklich nur die damals Jungen angesprochen. Damit ist das heutige Zielpublikum, das sich bei IWS köstlich amüsieren kann, auf genau meine Altersgruppe beschränkt. Meine Frau, die zu jener Zeit ein kleines Immigrantenkind aus dem fernen Persien war und sich an gar nichts erinnern konnte, war völlig konsterniert und war fasziniert wie eine Anthropologin die im Dschungel einen ganz neuen Stamm mit bizarrer Kleidung und Riten entdeckt hat (und das Geläster und Verlangen alte Photos zu sehen darf ich mir jetzt sicher noch Wochen anhören ).
Zuletzt also die Songs: Emotionen kamen nicht auf, aber dafür viel Spass, denn die Umsetzung vieler Songs war sehr fantasievoll und gelungen, selbst aus dem dümmsten aller dummen NDW-Songs "Da Da Da" haben sie eine herrlich witzige Nummer gemacht. Highlights waren daneben für mich "Codo", "Sternenhimmel", "Ich will Spass" und die Nena-Songs ("99 Luftballons", "Leuchtturm" und "Irgendwo, irgendwie, irgendwann") - und ja ich geb zu, ich kannte alle Songs
Mein Fazit der ganzen Geschichte: Wenn dieses Musical (ein bißchen gekürzt!) wie in Holland für 30-40 Euro durch die Provinztheater touren würde, wäre es ein gelungener Wurf, eine nette witzige Compilation-Show die sich konkret an eine bestimmte Zielgruppe richtet (die in besagten Provinztheatern auch überall für ein-zwei Abende die 500 Plätze füllen würde und ihren Spass hätte). Aber als "Großproduktion" an einem festen Spielort für die von SE verlangten Preise ist es zuwenig. Da hat man mehr davon, zuhause mit einer "Best of NDW"-Doppel-CD und ein paar alten Freunden einen Retro-Abend mit Zauberwürfel und PacMan zu machen (und dummschwätzende Ehefrauen auszusperren).
Aber - Spass hab ich gehabt. Nun steinigt mich  |