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 Drama
Doktor Schiwago Die Geschichte eines Lebens
© Stefan Drewianka
© Stefan Drewianka
Nachdem die Freilichtspiele Tecklenburg 2018 mit "Les Misérables" einen riesigen Erfolg feierten, stellen sie dieses Jahr erneut ein Musical mit historischem Hintergrund auf die Bühne. Und so darf durchaus ein Vergleich erlaubt sein und die Frage: Können die Freilichtspiele das Glanzstück aus dem Vorjahr wiederholen?
(Text: tw) Premiere: | | 26.07.2019 | Rezensierte Vorstellung: | | 26.07.2019 | Dernière: | | 14.09.2019 | Showlänge: | | 190 Minuten (ggf. inkl. Pause) |
Auf den ersten Blick mag man Vorbehalte haben. Zwar steht die Produktion bei der Wahl der Darsteller, bei Bühne, Ausstattung und Orchester der Vorjahres-Inszenierung in nichts nach, doch das Stück selbst kann es nicht mit "Les Misérables" aufnehmen. Die Musik von Lucy Simon, die sich zweifelsfrei an den Drama-Musicals der letzten Dekaden orientiert, ist nicht so einzigartig und herausragend wie die von Claude-Michel Schönberg. Auch das Buch von Michael Weller hat nicht ganz die Klasse eines Alain Boublils. (Ausführlich hat die Musicalzentrale dazu in ihrer Rezension zur Leipziger Premiere im Januar 2018 geschrieben.) An einigen Stellen geht die Geschichte sehr langsam voran, dafür wird zu anderer Zeit in einem Nebensatz wichtige Entwicklungen abgearbeitet, die eine Szene wert gewesen wären. Als Beispiel sei hier der Moment genannt, als Schiwagos Ehefrau Tonia erfährt, dass ihr Mann ein Verhältnis mit Lara hat – er wird einfach ausgespart. Liest man im Vorfeld die Geschichte oder kennt man die 1965er Verfilmung mit Omar Sharif, könnte man sich überhaupt die Frage stellen, wie man für Jurij Schiwago Sympathien entwickeln kann, der zwei Frauen gleichzeitig liebt und die eine mit der anderen betrügt. Und dann, wenn sich die beiden Frauen begegnen, verstehen diese sich und akzeptieren, dass sie ihre Liebe teilen müssen.
Augenscheinlich keine optimalen Voraussetzungen für einen gelungenen Theaterabend. Doch alle "aber" im Kopf verschwinden beim Genuss der Tecklenburger Inszenierung. Dies liegt neben der gut geführten Regie von Ulrich Wiggers vor allem an den Leistungen des Hauptdarsteller-Trios Jan Ammann, Wietske van Tongeren und Milica Jovanovic.
Van Tongeren spiel Antonina 'Tonia' Gromenko. Ihre Eltern nehmen den fünfjährigen Jurij Schiwago auf, nachdem dieser Vollwaise geworden war. Mehr wie Geschwister wachsen sie heran und werden am Ende doch ein Paar. Das Musical-Buch lässt diese Entwicklung aus, verweist aber später auf die fehlende Leidenschaft der beiden. Van Tongeren holt jede Nuance aus ihrer Figur heraus, zeigt die Entwicklung zu einer starken Frau und Mutter, die ihren Mann liebt, auch wenn sie ihn bei einer anderen weiß. Einer der besonders anrührenden Momente ist dann auch der, wenn Tonia oben auf der Empore stehend den Brief besingt, den sie ihrem Mann schrieb, nicht wissend ob sie ihn nach über zwei Jahren als Arzt im Kriegsgebiet wiedersehen würde. Er bekommt diesen Brief von Lara ausgehändigt und liest ihn in deren Armen liegend. Spätestens an dieser Stelle greifen viele der über 2000 Zuschauer zu den zuvor ausgelegten Taschentüchern.
Schiwagos Geliebte Larissa 'Lara' Guichard wird von Milica Jovanovic dargestellt, die seit Jahren ein gern gesehener Gast der Festspiele ist. Hier darf sie endlich einmal wieder zeigen, was sie kann! An vielen Stellen im ersten Akt reißt das Buch die aufkommende Liebe zwischen den beiden Hauptcharakteren nur an, doch gibt es diesen langen Moment an der ukrainischen Front, wo sich Jurij und Lara wiedertreffen – er der Arzt, sie die Krankenschwester. Auch Jovanovic entwickelt den Charakter ihrer Figur langsam trotz der vielen Zeitsprünge und wird am Ende ebenfalls zu einer starken Frau und Mutter, die alles für den Mann ihres Lebens tun würde.
Einer der Höhepunkte ist übrigens das einzige Duett der beiden Damen bei deren ersten Zusammentreffen in der Bibliothek. Ihre Stimmen harmonisieren perfekt, und so bekommen Jovanovic und van Tongeren verdient langanhaltenden Applaus.
Das Beziehungsgeflecht ist aber noch komplizierter, denn Lara ist mir Pawel Antipov verheiratet, der zunächst Anführer einer Gruppe marxistischer Studenten ist und später an der Spitze der terrorisierenden Bolschewiki steht. Mit böser Miene und harten Tönen legt Dominik Hees seine Rolle an, die ihm überraschend gut zu Gesicht steht. Fast am Ende gibt es diesen wunderbaren Moment zwischen Schiwago und Antipow, als dieser erkennt, dass er seine Frau Lara an Jurij verloren hat. Ein wahrlich starke Szene zwischen Hees und Ammann.
Die Mammut-Rolle schlechthin hat aber Amman: Über drei Stunden fast jede Sekunde auf der Bühne – und das bei über 30 Grad und nicht gerade leicht bekleidet. Seine Rolle ist stückbedingt die vielschichtigste und die, die die größte Entwicklung durchmacht. In jedem Moment hat Ammann seine Figur, die er bereits bei der Deutschlandpremiere in Leipzig interpretierte, völlig unter Kontrolle. Alles ist genau überlegt, gefühlt und dargestellt. Die aufkeimende Liebe und Lust zu Lara, der Wunsch zu helfen als Arzt, der Widerwille in der Gefangenschaft', die Rückkehr nach zwei Jahren zu seiner Geliebten und die Sehnsucht nach seiner Frau, obwohl er bei Lara ist. Gebrochen und am Ende liegt er schließlich da und quält sich zu leben. Eine schauspielerische Meisterleistung! Dass er sich die Partitur zu eigen macht und auch stimmlich glänzen kann, scheint dabei fast schon selbstverständlich.
Auch alle anderen Darsteller sind bestens besetzt und holen das aus ihren Rollen raus, was buchbedingt drin ist: Bernhard Bettermann als Rechtsanwalt Viktor Komarovskij, Bettina Menske und Kevin Tarte als die Eltern von Tonia und in kleineren Rollen Nicolai Schwab als Janko und Florian Soyka als Liberius. Fast 20 weitere Darstellerinnen und Darsteller im Ensemble sowie Chor und Statisterie der Freilichtspiele machen wie immer den guten Ton komplett und das Bild zur rechten Zeit opulent.
Eine Produktion pro Jahr – in der Regel das dramatische Stück – betreut Tjaard Kirsch als musikalischer Leiter. Sein sauberes Dirigat und die Führung des 18-köpfigen Orchesters sind eine Wohltat und holen aus der Partitur alles raus, was drin ist.
Nicht unerwähnt bleiben soll das wunderbare Bühnenbild nach einer Idee des Regisseurs Ulrich Wiggers und in der Umsetzung von Jens Janke. Vier Stege, die nur leicht ansteigen und sich mittig treffen wie Wege an einer Kreuzung, bilden das Kernstück der Hauptbühne. Ansonsten gibt es ein Dutzend schneebedeckte kahle Bäume und links hinter dem Brunnen ein angedeutetes Lazarett. Das weißblaue, kalte Licht tut sein Übriges, um die gesamte Fläche winterlich und frostig erscheinen zu lassen – so wie oft das Kriegsgeschehen auf der Bühne. Besonders stimmungsvoll gelingt die Szene, wenn die Krankenschwestern im Lazarett um den Brunnen herumsitzen und die berühmte Schiwago-Melodie "Lara's Theme" aus dem bekannten Film anstimmen. Dann wird das Licht ein wenig wärmer, und für einen Moment verstummt der ganze Trubel.
Es sind diese vielen kleinen Momente, die den Abend ausmachen. Mal kann man sich zurücklehnen und genießen, mal sitzt der Zuschauer aufrecht auf seinem Sitz und verfolgt die wilden Kriegsszenen. Ein bisschen historisches Wissen wäre für den Abend übrigens nicht schlecht, um grob zu verstehen, worum es in der Rahmenhandlung geht. Aber das ist ja auch bei "Les Miérables" nicht von Nachteil.
Die beste Komposition, das beste Buch? Vermutlich nicht! Für einen musicalbegeisterten Zuschauer unbedingt sehenswert? Absolut!
(Text: Thorsten Wulf)

Verwandte Themen: Hintergrund: Interview mit Ulrich Wiggers (11.06.2019)
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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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