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 Musical-Geschichtsstunde
Cabaret Willkommen, bienvenue, welcome!
© Heiko Sandelmann
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Mark Zurmühles Inszenierung ist eine Gratwanderung zwischen zügellosem Amüsement und - besonders im ersten Teil – sehr weich gespültem Unterhaltungstheater. Eine tolle Band und ein solider Cast garantieren einen runden Musical-Abend mit eindrucksvollen Bildern zu den Aktschlüssen. Hier wird der Conférencier von einer Frau dargestellt.
(Text: Kai Wulfes) Premiere: | | 23.02.2019 | Rezensierte Vorstellung: | | 23.02.2019 | Letzte bekannte Aufführung: | | 20.06.2019 | Showlänge: | | 165 Minuten (ggf. inkl. Pause) |
Rechtsruck bei der Verlobungsfeier: Als Fräulein Kost beim Fest von Fräulein Schneider und Herrn Schultz naiv-berechnend voller Inbrunst das deutschtümelnde „Der morgige Tag ist mein“ anstimmt, stoppt die sich während der gesamten Vorstellung permanent bewegende Drehbühne abrupt und ändert für den Rest des Stücks ihre Fahrtrichtung. Aus der Links- wird eine Rechtsdrehung, die Musiker wechseln bei den untermalenden Variationen des „Ananas“-Songs vom Walzer- in den Marschrhythmus und die meisten der Gäste paradieren wie ferngesteuert im Stechschritt. Mit diesem eindrucksvollen Bild entlässt Regisseur Mark Zurmühle sein Publikum in die Pause.
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Bis dahin plätschert seine Inszenierung als handwerklich gut gemachtes Unterhaltungstheater daher. Dabei werden die dem Musical-Buch zugrundeliegenden biografischen Erzählungen von Christopher William Bradshaw Isherwood stärker einbezogen als anderswo. Aus ihnen lässt der Regisseur Clifford immer wieder zusätzliche Passagen sprechen, sodass eine etwas lange, sehr textlastige Fassung entsteht, die stärker Bradshaws Bisexualität thematisiert und die Rolle seiner früheren Affäre Bobby (Helge Mark Lodder) aufwertet. Dieser androgyn-muskulöse Jüngling pendelt im anrüchigen Kit-Kat-Amüsiertempel zwischen den Geschlechterrollen hin- und her und bahnt auf der Herrentoilette sexuelle Begegnungen an, bei denen auch der gegenderte Conférencier mitmischt. Zurmühles freizügiger Berliner Sündenbabel entspricht ganz der Textzeile „We switch partners daily“ aus „Two Ladys“: Ernst Ludwig steigt zu Clifford und Sally ins Bett, die wiederum mit dem Conférencier knutscht, der/die eine Affäre mit Fräulein Kost (auf den Punkt besetzt: Juliane Schwabe) hat.
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Erst im zweiten Teil wird aus zügellosem Amüsement bitterer Ernst. Zurmühle verlagert seinen Fokus, die Inszenierung wird zusehends düsterer und gipfelt in einem furiosen Finale: Unter einem riesigen Hakenkreuz wird das gesamte Personal des Kit-Kat-Clubs in einen Käfig getrieben, in dem parteitreue Blondinen es - von einem blutroten Nazi-Banner umhüllt- abtransportieren. Grinsend wünscht der Conférencier „Gute Nacht“, das Licht verlischt und in der Dunkelheit herrscht für einige Momente absolutes Schweigen. Diese Figur ist als diabolisch-triebgesteuerter Gastgeber angelegt, den die grandios singende Sascha Maria Icks als Zigaretten rauchenden, Lutscher lutschenden oder Bananen essenden Beobachter ohne wirkliche Aufgaben geben muss. Einzig beim Song „Money“, den der Regisseur als Plädoyer des Conférenciers für Cliffords Zusammenarbeit mit den Nazis deutet, darf Icks gemeinsam mit Sally, Ernst Ludwig (etwas zu sympathisch: Jakob Tögel) und den Kit-Kat-Girls und -Boys die ganz große Show mit goldenen Pailletten-Schals und -Hüten zelebrieren. Nicht nur für diese Szene hat Andrea Danae Kingston rasante Choreografien mit Akrobatik-Elementen entwickelt, die vor allem das achtköpfige Ensemble mit vollem Körpereinsatz gekonnt umsetzt.
Punkten kann Bremerhavens „Cabaret“-Neuinszenierung auch mit einer grandiosen Sechs-Mann-Band (Leitung: Jan-Hendrik Ehlers), die Bühnenbildnerin Eleonore Bircher in ihren Kit-Kat-Club integriert hat. Dieser befindet sich auf dem halb-hochgefahrenen Orchestergraben, der durch einen mit Glühbirnen bestückten Steg geteilt wird. Links sitzen die Musiker, rechts befinden sich Tische mit Telefonen, an denen die Gäste und die Souffleuse Platz nehmen. Für die Bühne selbst hat Bircher einen schäbig wirkenden Innenhof entworfen, der im Erdgeschoss mit einer blauen Tapete mit Bourbonen-Lilien dekoriert ist. Das dient sowohl als Club-Ambiente, als auch für die Zimmer von Fräulein Schneider. Der Clou: durch zwei zentrale Tore werden per Drehbühne in Dauer-Rotation immer wieder Versatzstücke gefahren, was schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Warum Bircher die Fenster in den beiden oberen, nur als Staffage genutzten Etagen mit Nummern versehen hat, bleibt allerdings ihr Geheimnis.
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Im Mittelpunkt jeder „Cabaret“-Aufführung steht vorlagenbedingt die Darstellerin der Sally Bowles. Dorothea Maria Müller füllt diese Rolle mit starkem Musical-Sopran aus und gibt zunächst ein flatterhaftes Naivchen, das im Laufe der Show verbittert erkennen muss, dass ihre Liebe zu Clifford gescheitert ist. Trotzig kehrt sie in den Kit-Kat-Club zurück und singt mit verheultem Makeup und leicht zitternder Stimme den bekannten Musical-Titelsong. Die ganz große Show liefert sie bei „Mama“ und „Mein Herr“ ab, sehr nachdenklich gerät „Maybe this time“. Nicht nur bei Sally Bowles gefällt das den 1930er Jahren huldigende Kostümbild, für das Cornelia Schmidt glitzernde Showoutfits aber auch schicke Anzüge mit Marlene-Hosen entworfen hat.
Durch die bereits erwähnten textlichen Ergänzungen aus den Erzählungen gewinnt auch die Rolle des Clifford an Potenzial. Henning Bäcker spielt den amerikanischen Schriftsteller sehr souverän und warmherzig. In dieser Inszenierung ist ihm sogar der sonst oft gestrichene Song „Why should I wake up till now“ vergönnt, den Bäcker mit angenehmem Bariton intoniert. Hier gefällt er auch im Tanz mit Dorothea Maria Müller. So gut dieses Paar harmoniert, so problematisch ist das bei Isabel Zeumer (Fräulein Schneider) und Kay Krause (Herr Schultz). Zeumer spielt eine sehr quirlige Zimmerwirtin, die mit einer grandiosen Chanson-Stimme verbittert „Wie geht’s weiter?“ fragt. Gesang ist hingegen nicht gerade das Zuhause von Kay Krause, der sich mit dem „Ananas“-Song und „Heirat“ abmüht und dem das Couplet „Mischnick“ erspart bleibt. Sein Herr Schultz ist ein liebenswerter Herr der kleinen Gesten, der nach dem Anschlag auf sein Geschäft die Welt nicht mehr versteht und mit Koffer in der Hand und Ölgemälde unterm Arm zum Schluss das Stücks von der Bühne schleicht.
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Eine alles andere als weichgespülte "Cabaret"-Inszenierung ist in Zeiten von national-radikal predigenden Parolen unter dem Demokratie-Denkmäntelchen ein wichtiger Beitrag, um die Gesellschaft wachzurütteln. Mark Zurmühles Bremerhavener Inszenierung schafft das mit wuchtigen Bildern zu den Aktschlüssen zumindest in Ansätzen.
(Text: kw)

Kreativteam
Besetzung
Produktionsgalerie (weitere Bilder)
Zuschauer-Rezensionen
Die hier wiedergegebenen Bewertungen sind Meinungen einzelner Zuschauer und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Musicalzentrale.
 1 Zuschauer hat eine Wertung abgegeben:

    31991 Gelungene Inszenierung: "Life is a Cabaret"
09.03.2019 - Clifford Bradschaw tritt auf. Er ist Schriftsteller aus Amerika und auf dem Weg ins Berlin der Weimarer Republik, um dort im pulsierenden Leben der Großstadt endlich die Inspiration für seinen großen Roman zu finden. Auf der großen Leinwand flackern die ersten Bilder und formen sich zu Konturen: Clifford sitzt im Zugabteil und lernt den Devisenschmuggler Ernst Ludwig kennen, der ihm nicht nur eine Bleibe vermittelt sondern auch die Freundschaft anbietet. Clifford nimmt – trotz der Warnung des windigen Conférenciers – beides an,…
…und taucht am Silvesterabend des Jahres 1929 in die dekadente Welt dieser Metropole ein, lernt Nachtclub-Sängerin Sally Bowles kennen und lieben, sieht wie die zarte, späte Liebe seiner Wirtin Fräulein Schneider zum jüdischen Obsthändler Herr Schulz aufgrund der politischen Entwicklungen zerbricht und erkennt die Nationalsozialisten, die immer mehr Einfluss gewinnen, als Bedrohung der Freiheit des Einzelnen und als Zerstörung der Grundfeste der demokratischen Gesellschaft.
Harter Tobak für ein Musical…! „Cabaret“ wird im Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven darum auch unter „Schauspiel“ geführt. Und so sind die Hauptrollen (mit einer Ausnahme) aus dem Schauspielensemble besetzt. Zudem wurde auf das große Orchester verzichtet: Die Musik klingt in der Besetzung der 6-Mann-starken Band unter der Leitung von Jan-Hendrik Ehlers darum auch mehr nach Weill/ Brecht als nach Broadway-Sound.
Während in anderen Inszenierungen das Hauptaugenmerk gerne eher auf Sally Bowles und dem Conférenciers liegt, steht hier der Schriftsteller Clifford Bradshaw im Mittelpunkt und rückt so das Musical näher an seine Vorlage, der Erzählung „Goodbye to Berlin“ von Christopher Isherwood. Henning Bäcker füllt diese Aufgabe bravourös aus. Er trägt diese anspruchsvolle Rolle, ist nicht nur Erzähler – Nein! – er ist der Chronist seiner Zeit: Nah genug, um betroffen zu sein/ fern genug, um ein krankes System zu erkennen! Bäckers Clifford Bradshaw bleibt, trotz aller Ambivalenz und sich den Verlockungen kurzfristig hingebend, das Gewissen des Stücks: Für ihn steht die Menschlichkeit über allem!
Die Sally Bowles von Dorothea Maria Müller (Gast und einziger Musicalprofi im Ensemble) erscheint anfangs als oberflächliches Flittchen, der Spaß (auch am Sex) und die eigene, klägliche Karriere wichtiger zu sein scheinen, als eine ernste Beziehung oder die angespannte politische Atmosphäre. Erst im 2. Akt ändert sich diese Haltung, als Sally schmerzhaft erkennen muss, dass sie selbst für ihr Tun (oder auch Nicht-Tun) verantwortlich ist. Hier hat Dorothea Maria Müller die Gelegenheit nicht nur gesanglich sondern auch schauspielerisch zu glänzen: Ihre Konfrontation mit Cliff ist voller Dramatik und geht unter die Haut. Zudem verfügt Müller über eine tolle Stimme und bringt die Song-Klassiker dank ihrer individuellen Phrasierung zum Blühen.
Sascha Maria Icks wurde unlängst in einem Artikel eines Boulevard-Magazins als „Grande Dame“ des Stadttheater Bremerhaven bezeichnet. Soweit würde ich nicht gehen: Klingt dies doch zu sehr nach nahender Rente, und davon ist sie weit entfernt. Im Gegenteil: Auch in der Rolle des Conférenciers zeigt sie wieder ihre Kunst. Ihr Conférencier ist ein anpassungsfähiges Wesen (sexuell/ politisch) voller Ironie und der diabolische, scheinbar unberührbare Strippenzieher, dem menschliche Schicksale oder politische Entwicklungen „am A…“ vorbei geht. Selten wird diese Rolle von einer Frau verkörpert: Dabei ist sie mit ihrer Ambivalenz, Androgynität und sexueller Flexibilität auf kein Geschlecht festgelegt. Icks ist in guter Gesellschaft: Bei der deutschsprachigen Ur-Aufführung 1970 am Theater an der Wien wurde diese Rolle von der großartigen Blanche Aubry verkörpert.
Isabel Zeumer und Kay Krause als Fräulein Schneider und Herr Schulz glänzen nicht: Sie schimmern nur zart inmitten dieses ganzen grellen Tands und Flitters und berühren darum im Spiel umso mehr. Gerade die Zerstörung dieses kleinen Glücks der älteren Menschen berührt beinah mehr als die große Dramatik zwischen Sally und Cliff.
Jakob Tögel ist schon rein optisch der Vorzeige-Deutsche: groß und blond. Er legt die Rolle des Ernst Ludwig anfangs beinah zu sympathisch an. Er ist der attraktive Verführer, der scheinbar ungefährlich, dafür sexuell sehr aufgeschlossen, das Vertrauen seiner Mitmenschen gewinnt, um dann später die Fratze des Nationalsozialisten zu zeigen.
Mark Zurmühle ist eine aufwühlende Inszenierung gelungen: Der erste Akt plätschert scheinbar belanglos vor sich hin. Das Amüsement steht im Vordergrund. Alles scheint banal! Umso mächtiger treffen das Publikum die Entwicklungen des 2. Aktes und machen betroffen – ähnlich wie die politischen Entwicklungen unserer Gegenwart: erst in Sicherheit wiegen, dann zuschlagen! Einzige (kleine) Wermutstropfen dieser Inszenierung waren für mich die farblos wirkende Choreografie von Andrea Danae Kingston und die wenig individuelle Zeichnung der Kit-Kat-Girls und -Boys (Vielleicht auch so gewollt?).
Eine absolut sehenswerte „Cabaret“-Inszenierung, bei der Schauspiel vor Show steht!

Henry Higgins (11 Bewertungen, ∅ 4.4 Sterne) 
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| Handlung | Berlin kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. mehr Der unbekannte amerikanische Schriftsteller Cliff Bradshaw reist in die deutsche Hauptstadt, um Inspiration für sein neues Werk zu finden. Im Kit-Kat-Club ist Cliff ist fasziniert von Sally Bowles, neben dem zwielichtigen Conferencier absoluter Star des Etablissements. Schnell wird aus Cliff und Sally ein Paar, Sally wird schwanger. Doch der erstarkende Nationalsozialismus macht sich bemerkbar. Auf der Verlobungsfeier seiner Pensionswirten Fräulein Schneider mit dem jüdischen Obsthändler Herr Schultz wird Cliff mit den politischen Entwicklungen in Deutschland konfrontiert und überdenkt seine Zukunftspläne.
| Weitere Infos | Aufführungsrechte: Verlag Felix Bloch Erben
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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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