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 Rock-Drama
Hedwig and the Angry Inch Sex, Drag and Rock'n'Roll
© Dennis Veldman
© Dennis Veldman
Ein Glücksfall: Sven Ratzke als laut-schrill-obszöne Hedwig, der in Guntbert Warns‘ Inszenierung die Tragik etwas abhandenkommt.
(Text: Kai Wulfes) Premiere: | | 05.06.2013 | Rezensierte Vorstellung: | | 05.07.2013 |
Willkommen in Hansels spießigem Wohnzimmer! Momme Röhrbein (Bühnenbild) hat die neue Spielstätte „Klub“ im Keller des Berliner Admiralspalastes, einst eine Kegelbahn, ganz im Charme des „Gelsenkirchener Barock“ eingerichtet: In der Mitte des riesigen Raumes ist das Publikum im Halbkreis auf vom Flohmarkt zusammengesuchten Stühlen und Sofas mit Beistelltischen und kleinen Stehlampen platziert. Der Blick fällt auf eine mit Orientteppichen ausgelegte Spielfläche. Hier reiht sich vor einer rubinroten Samttapete mit Paisley-Muster eine Schrankwand neben die nächste, prasselt in Röhrenfernsehern ein Kaminfeuer.
Größer könnte der Bruch gar nicht sein: Ins Nippes-Kleinbürger-Idyll mit Leuchtglobus, Geweihen und ausgestopften Tieren stürmt der grell geschminkte Hansel mit blonder Mähne und im schwarzen Minikleid. Aufgedonnert als schrille Diva Hedwig (Kostüme: Angelika Rieck; Maske: Ulrike Reimann) rockt sich der Transsexuelle musikalisch unterstützt von der Viermann-Band „The Angry Inch“ durch sein Leben und erzählt die medizinisch missglückte Mutation des „märchenhaft-zarten Knaben aus der DDR zur weltweit missachteten Diseuse“. Begleitend flimmern über die Fernseher Einspieler, die zum Beispiel die Geschlechtsumwandlung als OP an einem Teddybären zeigen.
Optische Hilfestellung leisten in Guntbert Warns‘ Inszenierung die Schrankwände, die zum Teil von innen begehbar sind oder durch Öffnen der Türen neue Spielorte erscheinen lassen, wie Hedwigs Wohnmobil mit Klappbett. Besondere Bedeutung kommt einer Klappe zu, deren Front sich zum Zuschauer hin bewegen lässt. Dahinter wird Hedwigs Ex-Mann Tommy, der sich nach dem medizinischen Fusch von Hedwig abgewandt hat, durch grelles Licht und wabernden Nebel symbolisiert. Im Finale verschwindet Hansel, bis auf eine schwarze Glitzer-Boxer ausgezogen und demaskiert, durch diese Tür.
Ein bewegender Moment in einer Inszenierung, die immer dann funktioniert, wenn sie Hedwig schrill und derb in der Konzertsituation zeigt. Warns‘ Regiearbeit wirkt vor allem in den leisen Momenten im zweiten Akt (sexuelle Annäherung zwischen Tommy und Hedwig) lähmend und langweilig. Außerdem vernachlässigt sie Hedwigs neuen Ehemann Yitzhak zu sehr. Maria Schuster ist als bulgarische Transsexuelle in mausgrauer Männeroptik ihr trotzig aufbegehrender Seelen-Fußabtreter und stimmgewaltige Background-Sängerin, doch ihre Rückverwandlung zur Frau im grellen Neon-Barbie-Kostüm kommt wie aus heiterem Himmel. Schuster schreit sich ein wenig zu sehr durch ihr Solo „Was fühlst du bloß?“: Vielleicht liegt das aber auch an den sehr hoch aufgezogenen Reglern der Tonanlage, die die Boxen beben lassen.
Gesanglich und darstellerisch liefert Sven Ratzke eine Glanzleistung ab: Als Hedwig quasi im Dauereinsatz, groovt und rockt er mit großer, voller Röhre durch die von Punk und Glamrock inspirierten Songs, ist aber auch in den Balladen stimmsicher. Sein „Schnecken“ genanntes Publikum hat Ratzke von der ersten Sekunde an fest im Griff. Wer diese Show besucht, sollte sich bewusst sein, jederzeit verbales oder körperliches Opfer dieser schrillen, lauten und obszönen Figur werden zu können. Sehr spontan, ohne jegliche Skrupel und mit vollem Körpereinsatz lässt Ratzke die Besucher Teil des Ganzen werden. Seine Hedwig flirtet die Zuschauer hemmungslos an und missbraucht zum Beispiel nach einem Sprung auf einen Bartresen den daneben sitzenden Herren schon einmal als Hocker zum Heruntersteigen. Auch wenn manches (Bespucken mit Getränken, Bewerfen mit vollgeschwitzten Papiertaschentüchern) die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet: Wer außerhalb von Hedwigs Bewegungsradius sitzt, amüsiert sich wie Bolle.
(Text: kw) 
Kreativteam
Besetzung
Produktionsgalerie (weitere Bilder)
Zuschauer-Rezensionen
Die hier wiedergegebenen Bewertungen sind Meinungen einzelner Zuschauer und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Musicalzentrale.
 2 Zuschauer haben eine Wertung abgegeben:

    30181 TOP
26.11.2013 - War im Juni ´13 dort - Fand es TOP. Bin echt Zufrieden raus gegangen. Freue mich aufs nächste mal!

MyMusicalLove (12 Bewertungen, ∅ 3.7 Sterne)
    30049 mmmmhhh
04.07.2013 - Gestern war es soweit - ich hab mir endlich, nach vielen Jahren, wieder einmal Hedwig anschauen dürfen. Ich hab die Show das letzte Mal vor etlichen Jahren im Wiener Metropol mit Andi Bieber sehen dürfen und war dort sehr beeindruckt - sowohl von der Show als auch von Andi Bieber in der Rolle. Ich kannte ihn schon lange, aber hab ihn noch nie so "intensiv" erlebt. Selbst mein Mann, kein eigentlicher Musicalfan, war sowohl von der Show als auch von ihm damals so begeistert, dass er auch nach Jahren immer wieder davon redet. Mit dieser Vorgeschichte nun also gesern Hedwig. Sven Ratzke war mir vorher kein Begriff - er hat die Rolle vollkommen anders angelegt, es gab bei ihm nicht diese leisen, intimen Momente, in denen man aufgrund der Geschichte tief schlucken muss. Seine Hedwig war so oberflächlich, so abgeklärt, so "fertig" mit ihrer Geschichte, dass man sie einfach nur wahrgenommen hat, aber keinerlei Empathie aufbringen konnte. Zudem ist er (meiner Meinung nach) zu männlich für die Rolle. Sein Bartansatz war trotz Schminke zu sehen und er wirkte zu grob, zu groß, zu unfeminin, als das damals wirklich nur sein Penis bei der Musterung ein Problem hätte sein können.
Der Sound tat leider sein übriges - ich werde ohnehin nie verstehen, warum die Lieder auf Englisch gesungen werden (wage zu behaupten, dass ein Großteil des Publikums Probleme hat, Rocksongs in Englisch zu verstehen), aber gestern war es aufgrund der Akustik zusätzlich noch für echte Englisch-Versteher unmöglich, irgendetwas von den Liedtexten mitzubekommen.
Und so kam es dann, dass das (für mich) schlimmstmögliche während einer Show passiert ist - das Publikum ist zahlreich an die Bar im Saal gegangen oder wahlweise auf die Toilette, in die Absinthbar einen Raum weiter oder - wie ca. 1/3 der Gäste - während der Pause dann überhaupt nach Hause.
Es ist traurig, wenn so ein Stück so gefühllos "wird" - und das ausgerechnet auch noch in Berlin, im Admiralspalast, wo schon der geschichtliche Hintergrund danach schreit, das man auf eine intensive Gefühlsreise gehen könnte...

MsDesmond (10 Bewertungen, ∅ 3.1 Sterne) 
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Karten können über den jeweiligen Veranstaltungsort bezogen werden (siehe Liste rechts) |
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| Handlung | Die Rock-'n'-Roll-Drag-Queen Hedwig beschreibt neben einigen bizarren Ereignissen ihre Verwandlung vom ostdeutschen Jungen Hänsel in die skurile Kunstfigur Hedwig, der nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung nur noch ein "Angry Inch" blieb. mehr
| Weitere Infos | Die Uraufführung war am 14. Februar 1998 am Jane Street Theater (Off-Broadway) mit John Cameron Mitchell (Hedwig) und Miriam Shor (Yitzak). 2002 spielten Drew Sarich (Hedwig) und Irina Alex/Vera Bolten (Yitzhak) erstmals die deutsche Übersetzung von Rüdiger Bering und Wolfgang Böhmer.
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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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