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 Psychatrical
Stimmen im Kopf Wie irre ist normal? Wünsch dir ein Musical. Auf Anregung von zwei Zuschauern haben Peter Lund (Texte) und Wolfgang Böhmer (Musik) das Thema psychische Erkrankungen vermusicalt. Die Schwächen des Stücks spielen, singen und tanzen die tollen Darsteller mühelos fort. Unterm Strich eine vergnügliche, zum Nachdenken anregende Aufführung auf hohem Niveau.
(Text: Kai Wulfes) Premiere: | | 21.03.2013 | Rezensierte Vorstellung: | | 21.03.2013 | Letzte bekannte Aufführung: | | 02.01.2014 |
„Willkommen im Club – im Club der Bekloppten“, singt das Ensemble in seiner Eröffnungsnummer und spätestens jetzt ist auch dem unbedarftesten Besucher klar: Der helle, freundlich-funktionale Krankenhaus-Flur mit verglastem Schwesternzimmer (Bühnenbild: Ulrike Reinhard) gehört zu einer psychiatrischen Station, genau genommen zur geschlossenen.
Hier wird Jenny (Anna Pircher) therapiert: Als Objekt der sexuellen Begierde ihres Vaters ist sie ganz im Entwicklungsstadium eines naiven Mädchens stecken geblieben, das kichernd den Saum seines Kleides hebt und das Gesicht dahinter verbirgt. Einer ihrer Mitpatienten ist der hochbegabte Philipp (Patrik Cieslik). Bei diesem hyperaktiven Stotterer sind die Hände ständig in Bewegung, dazu murmelt er Verschwörungstheorien und reiht pedantisch Stühle auf, deren Symmetrie der alternativ-punkige Herbert (Marion Wulf in einer Hosenrolle) aggressiv auseinandertritt. Bereits als Kind regelmäßig mit Alkohol abgefüllt und abgeschoben, fristet Herbert perspektivlos ein ebenso trostloses Dasein wie Frau Dermicin (Verena Jakupov), die wie ein Racheengel immer wieder mit wirrem Blick durch den Gang schreitet und jedem Individuum böse Eigenschaften zuschreibt. Das gilt auch für Karrierefrau Karla (Maria Danae Bansen), die ihre Depression hinter der gesellschaftlich akzeptierten Modediagnose „Burnout“ versteckt. Ohne sichtbare Macken wirkt sie in dieser therapeutischen Zwangs-WG wie ein Fremdkörper, fordert als Privatversicherte jedoch vehement Sonderrechte ein und geht damit dem medizinischen Personal – Stationsarzt Dr. Thomsen (Christian Funk), Stationsschwester Eva (Yvonne Greitzke) und BuFDi Hannes (Christian Miebach) – erheblich auf die Nerven.
Isoliert betrachtet, bildet dieses von Peter Lund (Text) geschaffene Universum des Wahnsinns recht realistisch den Klinikalltag ab. Gemeinsam mit den auf der Bühne stehenden Studenten der Universität der Künste (UdK) hat er hierfür ausführlich in Krankenhäusern und psychotherapeutischen Einrichtungen recherchiert und Betroffene interviewt. Auch wenn für die Wirkung auf der Bühne einiges überzeichnet (die therapeutische Morgenrunde) oder hinzugedichtet (Patienten rauchen eine eingeschmuggelten Joint) wird: Lunds Buch und dessen ebenfalls von ihm verantwortete Umsetzung auf der Bühne nähern sich humorvoll, aber auch gefühlvoll-bedrückend (wie im Song „Zu Hause“) dem schwierigen Thema.
Schon deshalb hätte „Stimmen im Kopf“ es verdient, anders als die anderen Musicals zu sein, die bisher in Kooperation mit der UdK an der Neuköllner Oper gezeigt worden sind. Doch Peter Lund hält an seinem bewährten Strickmuster der komödiantischen Aufbereitung fest und drängt spießige Normalos in einen für sie fremden Mikrokosmos. Im Fall der geschlossenen psychiatrischen Abteilung liefert die besorgte Babsi (Larissa Puhlmann) ihre jüngere Schwester Nadine (Ira Theofanidis) in die Klinik ein. Die Studentin wirkt auf ihre Außenwelt wie ferngesteuert, weil sie sich zu dem nur für sie und das Publikum wahrnehmbaren Daniel (Dennis Dobrowolski) als personifiziertes Aufbegehren gegen die elterliche Erziehungswelt hingezogen fühlt. Diese diabolische Figur in der Maske des „Batman“-Jokers wirkt ebenso aus einem der Vorgängerstücke entlehnt wie Nadines pedantischer Verlobter Lars (Johannes Brüssau) oder die giftige Amtsärztin Dr. Stroessner (Verena Jakupov).
Da Lund jeder Figur mindestens einen Soloauftritt gönnt – hinzu kommen Duette und Ensemble-Nummern –, gerät die Show trotz viel Wortwitz und nie zotiger Gags etwas lang und hängt an der ein oder anderen Stelle dramaturgisch durch. Zudem werden einmal aufgegriffene Handlungsstränge (Tablettensucht des Arztes) nicht fortgeführt und die Geschichte zu einem übereilten, lieblos wirkenden Happyend verdichtet. Dass Herbert nach seinem Selbstmord-Sprung durch die Fensterscheibe überraschend gerettet werden kann, stimmt das Publikum zwar versöhnlich; ein tragischerer Ausgang hätte auf dem Nachhauseweg allerdings mehr zum Nachdenken angeregt.
Auch die wenigsten von Wolfgang Böhmers Kompositionen begleiten die Zuschauer vor die Tür der Neuköllner Oper. Die Partitur – ein gelegentlich sehr atonaler Mix, der unter anderem Rocksong, Kinderlied, Walzer und jazziges Klänge vereint – ist facettenreich, doch mit zunehmender Dauer des Stücks geht ihr schlichtweg die Puste aus. Ihren Höhepunkt findet sie bereits nach gut zwanzig Minuten im genialen Showstopper „Visite“, mit dem Dr. Thomsen seinen großen Auftritt als revueentlehnter Halbgott in Weiß mit Strass-Applikationen am Kittel und in Lackschuhen hat (Kostüme: Anne Hostert). Der dramaturgisch ähnlich in den zweiten Akt integrierte „Pillenappell“ mit den gesungenen Namen der verabreichten Arzneien („Dann hat die liebe Seele Ruh‘“) zündet allerdings nicht richtig. Das liegt auch an dem ablenkenden Video-Laufband, das im Hintergrund die möglichen Nebenwirkungen der erwähnten Medikamente an den Zuschauern vorbeisausen lässt. Am ehesten verbleiben das Finale von Akt 1 („Wir wollen raus“) und das bereits erwähnte, in mehreren Reprisen wiederholte „Willkommen im Club“ im Kopf. Hans-Peter Kirchberg und seine fünf, in blauen OP-Oberteilen gekleideten Musiker begleiten die Show mit sichtbarem Engagement aus einem geschickt im Hintergrund in das Krankenhausambiente integrierten Raum.
Auch wenn der ein oder andere gesungene Ton etwas angestrengt im Zuschauerraum ankommt: Die ausnahmslos mitreißenden Leistungen aller Darsteller sind die beste Werbung für das hohe Niveau der UdK-Ausbildung. Dabei fasziniert dieser Jahrgang mit seinem hohen tänzerischen Niveau und der Präzision, mit der Neva Howards anspruchsvolle Choreografien ausgeführt werden. Mit ihrem Tango-Duett „Mehr als gerecht“ punkten hier vor allem Larissa Puhlmann und Johannes Brüssau, deren darstellerische Leistung allerdings rollenbedingt etwas farblos ausfällt. Bewundernswerte Körperbeherrschung und ein schöner Tenor zeichnen Patrik Cieslik aus, während sich Yvonne Greitzke als die Patienten umsorgende Stationsschwester mit Problemen in der Bewältigung ihres Privatlebens in die Herzen der Zuschauer spielt. Das solistische Gesangs-Highlight setzt Christian Miebach, der mit samtigem, vollen Tenor „Wenn die Menschen schlafen gehen“ intoniert.
Bei der Premiere dankt das Publikum berechtigterweise allen Darstellern mit großem Jubel und stehenden Ovationen. „Stimmen im Kopf“ ist eine Musical-Therapie, die ganz ohne Nebenwirkungen Glücksgefühle freisetzt.
Eine Musiktherapie von Wolfgang Böhmer und Peter Lund Koproduktion mit dem Studiengang Musical/Show, UdK
Orchester Gitarre I: Johannes Gehlmann / Michael Brandt Gitarre II: Hossein Yacery Manesh Bass: Carsten Schmelzer / Martin Lillich Drums/Percussion: Kai Schoenburg / Michael Joch Keyboards/Synthesizer: Simon Steger Klavier: Hans-Peter Kirchberg/Tobias Bartholmeß
(Text: kw)

Kreativteam
Besetzung
Frühere Besetzungen? Hier klicken Hannes, der BuFDI - Christian Miebach
Zuschauer-Rezensionen
Die hier wiedergegebenen Bewertungen sind Meinungen einzelner Zuschauer und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Musicalzentrale.
 1 Zuschauer hat eine Wertung abgegeben:

    30204 Ich höre etwas, was du nicht siehst
09.12.2013 - Psychiatrie heute, die Kranken, die Angehörigen und das medizinische Personal stehen im Mittelpunkt von STIMMEN IM KOPF.
Das klingt eher sperrig und nicht nach einem kurzweiligen Musicalabend.
So kann man sich täuschen. Das Stück ist ausgesprochen intensive, humorvolle und emotional packende intelligente Unterhaltung.
Der Hauptverdienst liegt dabei bei Autor (und auch Regisseur) Peter Lund. Er hat das Kunststück fertig gebracht die humoristischen Anteile (die sich zwangsläufig auch ergeben, wenn man den Mikrokosmos einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung beleuchtet) und dem ernsthaften Anliegen, den Betroffenen und ihren Geschichten gerecht zu werden, funktionierend miteinander zu verbinden.
Ohne große Überzeichnung treffen die Patienten mit ihren individuellen Krankheitsbildern aufeinander und auf "Gesunde" und lösen so die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Es wird ebenso bedrückend, nachdenklich wie urkomisch, ohne dass dabei der Respekt vor den "Kranken" verloren geht.
STIMMEN IM KOPF ist aber auch eine grandiose Ensembleleistung der auftretenden Künstler. Kaum zu glauben, dass die Neuköllner Oper hier mit noch ganz jungen Absolventen der UdK Berlin zusammenarbeitet. Jede einzelne Charakterzeichnung der Patienten und ihrer individuellen Krankheitsbilder, sowie der nicht minder problembelasteten Angehörigen und des Pflegepersonals sind kleine vielschichtige Meisterleistungen, die zu einem stimmigen Ganzen verschmelzen.
Beeindruckend auch die Choreografie von Neva Howard und wie sie mit viel Temperament und großer Präzision von den Darstellern umgesetzt wird. Das sieht man in dieser Perfektion selten im Repertoire Betrieb.
Die Musik von Wolfgang Böhmer ist stilistisch breit gefächert. Von Rock bis Walzer, von Ballade bis Showtune reicht die Spannbreite. Insgesamt hält sie sich sich aber (angenehm) zurück und überpinselt nicht mit Musicalseligkeit die großartigen Darstellerlleistungen und gelungenen Texte.
Ein rundum stimmiges Lichtdesign, Bühnen- und Kostümbild ergänzen die großartige Inszenierung.
Diagnose: Ein Wahnsinns-Musical!

kevin (204 Bewertungen, ∅ 3.4 Sterne) 
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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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