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 Rockoper
Tommy Außenseiter als Idol
© Dorit Gätjen
© Dorit Gätjen
„Tommy“ in Rostock zeigt exemplarisch, was passieren kann, wenn ein staatlich subventioniertes Haus „mal eben“ den Quoten-Bringer Musical auf die Bühne bringen will. Es fehlen ein mit dem Genre vertrauter Regisseur, für das Stück geeignete Sänger und Darsteller und eine darauf ausgerichtete Tonanlage.
(Text: Kai Wulfes) Premiere: | | 07.09.2012 | Rezensierte Vorstellung: | | 14.09.2012 | Letzte bekannte Aufführung: | | 05.01.2013 |
Sonnenbrille auf der Nase, schwarzes Heftpflasterkreuz auf dem Mund und Gehörschutz auf den Ohrmuscheln. Die acht Menschen, die sich um Tommy und sein Kinder-Alterego scharen, drücken damit ihre Verbundenheit zu ihm aus. Doch wieso?
Immerhin dieses eine starke Bild hat Thomas Winter für das Finale seiner ansonsten statisch-langweiligen Inszenierung gefunden. Im Löwenanteil der Vorstellung arrangiert er das handelnde Personal, das oft in Zeitlupe agiert, frontal zum Publikum und deutet die Handlung eher verschämt an. Somit muss der durch einen (hier eher beiläufig verübten) Mord traumatisierte Titelheld entgegen der Vorgaben des Buches auf der Bühne weder einen sexuellen Missbrauch erdulden, noch wird der Junge körperlich gequält oder von Scharlatanen mit synthetischen Drogen therapiert. Immerhin erspart das Eltern, die den Rostocker „Tommy“ gemeinsam mit ihrem Nachwuchs besuchen (in der rezensierten Freitagabend-Vorstellung sitzen überraschend viele Kinder), die ein oder andere vielleicht peinliche Erläuterung.
Wenig überzeugend gelingt auch der Aufstieg des in seine Welt gekehrten Jugendlichen zum gefeierten Flipper-Helden. Fast unbeweglich, nur mit leicht zitternden Handgelenken, steht er einsam vor einer von Grautönen dominierten Animation mit Laborcharme (Video: Andreas Ehrig). Wie kann jemand, unbemerkt von der Öffentlichkeit, zu einem gefeierten Idol aufsteigen?
Nicht allein durch seine harmlose und Tristesse versprühende Deutung nimmt der Regisseur dem Stück seine psychologische Tiefe. Der Rostocker „Tommy“ verliert auch durch die Entsorgung von Dialogen und die Einsparung von Bühnenpersonal in einem wenig inspirierten Fundus-Kostümbild (Jenny-Ellen Fischer) an Kraft. Richtig ärgerlich an dieser zur Kammerversion gestutzten Rockoper ist allerdings, dass dem Publikum der Zugang zum Stück zusätzlich erschwert wird, indem die Songs in einer kruden Mischversion gesungen werden, in der innerhalb einzelner Strophen oder Textzeilen das englische Original auf die deutsche Übersetzung trifft. Vielleicht hätte der für diese Melange Verantwortliche etwas mehr Fingerspitzen haben sollen, denn wenn zum Beispiel Onkel Ernie bei seinem optisch unsichtbaren, sexuellen Übergriff für alle verständlich vom „Nachthemdchen“ singt, dann sollte entweder sein kindliches Opfer keinen weißen Anzug tragen oder die englische Version bemüht werden.
Von der Regie verhunzte Musicals lassen sich zuweilen durch die musikalische Umsetzung heilen, doch auch hier zeigen sich Defizite. Ein Manko ist die schlecht ausgesteuerte Tonanlage, deren wummernder Klangbrei fast permanent die Stimmen übertönt und die auf der linken Bühnenseite im 45-Grad-Winkel platzierten Projektionsflächen vibrieren lässt. Rechts davon steht ein Zweietagengerüst mit Flügeltüren im Parterre, auf dem die Band thront. Bühnenbildnerin Geertje Jacob rückt die Musiker damit ins Zentrum des nur im vorderen Drittel bespielbaren Bühnenraumes und unterstreicht damit auch optisch den Eindruck eines bebilderten Konzerts. Immerhin rocken Wolfgang Schmidt (musikalische Leitung) und seine Mannen mit viel Freude durch die Partitur von Pete Townshend.
Mit Ausnahme von Jacqueline Boulanger, die als Acid Queen nach der Pause mit großer, wohltönender Röhre den Tücken der Tonanlage trotzt, ist der akustische Eindruck eher zwiespältig. Während sich Peer Roggendorf (Onkel Ernie) mit gequetschtem Sprechgesang durch seine beiden Soli mogelt, ist Manuel Dengler ein wenig bedrohlicher, dafür schmieriger Cousin Kevin mit dünner Stimme. Als verzweifeltes Elternpaar lassen Sonja Dengler und Björn-Ole Blunck mit angenehmem Timbre aufhorchen, sind allerdings ebenso Opfer der Technik wie Marcus Melzwig in der Titelrolle. Als erwachsener Tommy hat er zwar die meisten Gesangsaufgaben, wirkt allerdings überfordert und stößt hörbar an seine stimmlichen Grenzen. Lukas Möller als kindliches Pendant spielt seine nahezu stumme Rolle eindringlich und bedrückend.
Die besuchte, dritte Vorstellung endet vor ausverkauftem Haus mit stehenden Ovationen und großem Jubel für die Darsteller.
Musik und Gesangstexte von Pete Townshend Libretto von Pete Townshend und Des McAnuff ergänzende Musik von John Enthwistle und Keith Moon
(Text: kw)

Kreativteam
Besetzung
Produktionsgalerie (weitere Bilder)
Zuschauer-Rezensionen
Die hier wiedergegebenen Bewertungen sind Meinungen einzelner Zuschauer und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Musicalzentrale.
 5 Zuschauer haben eine Wertung abgegeben:

    29732 Tommy für Kinder!
02.10.2012 - Ich wurde vor dem Stück gewarnt! Es wäre sehr Schmutzig/ Kinder unfreundlich!(Dutroux, nur viel früher) Aber nicht in Rostock! Mal Englisch, mal Deutsch oder gemischt gesungen? Alle waren so Zucker-Süß! Bis auf die faßt zu Kopfschmerzen übersteuerte Ton-Anlage! Auch kann ich Herrn Wulfes Ansichten untermauern.
Er geht von der Urfassung
aus in seiner Kritik, nicht von einer Soft-Fassung! Auch sind die Kostüme sehr schlecht!

chef de cuisine (14 Bewertungen, ∅ 3.5 Sterne)
    29727 sehr empfehlenswert
26.09.2012 - Uns und anscheinend vielen anderen Zuschauern hat dieser besondere Abend sehr gefallen. Dem Kritiker wohl nicht. Schade.

roxie h (erste Bewertung)
    29726 Ein Großartiger Abend
25.09.2012 - Ich bin Muscialfan, und lese hier eigentlich gerne die Kritiken, aber das was Herr Wulfes hier schreibt kann man einfach nicht so stehen lassen. Und so komme ich zum ersten Mal dazu hier einen Kommentar abzugeben:
Ja, die Darsteller sind keine Musicaldarsteller mit ausgebildeter Stimme und ja, der Ton ist nicht besonders gut, aber mir geht es wie meinen beiden Vorredener.
Ich habe TOMMY schon mehrfach gesehen und fand die Bühnenversionen bisher nie wirklich gelungen.
In Rostock gibt es aber nun eine sehr eigene, klare Version, die Raum für eigene Bilder lässt, ohne wilde Tanzeinlagen (die ich bei TOMMY immer eher unangebracht finde).
Endlich eine TOMMY Version, fern ab von den bisherigen üblichen typischen Musicalfassungen, die Herr Wulfes wohl lieber gesehen hätte.
Schade, das man sich anscheinend im Gerne Musical nicht sehr viel trauen darf ohne die Musicalkritiker zu verschrecken.
Aber einige Leute scheinen das ja auch anders zu sehen:
"Die besuchte, dritte Vorstellung endet vor ausverkauftem Haus mit stehenden Ovationen und großem Jubel für die Darsteller."

eingast (erste Bewertung)
    29723 Wohl nicht für jeden...
22.09.2012 - Da ist dann Theater/Musical wohl auch Geschmackssache. Fast alles was der Rezensent hier als negativ auflistet hat mir gerade besonders gut gefallen: Die Reduzierung, der Schwerpunkt auf Schauspiel, das belassen einiger Texte im Original usw. Die üblichen Fallen bei "Stadttheater macht Musical" sind hier meiner Meinung nach sehr schlau umschifft worden. Nur bei der schlechten Abmischung von Band- und Sänger-Sound und den Kostümen bin ich leider mit Herr Wulfes einer Meinung. Sollte es eine Wiederaufnahme geben empfehle ich auf jeden Fall sich selbst ein Bild zu machen !

einzuschauer (erste Bewertung)
    29722 Tolel Show
21.09.2012 - Aber schade, dass hier nicht einmal die Cast korrekt aufgeführt ist.

vonKrolock (11 Bewertungen, ∅ 4.5 Sterne) 
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| Handlung | In der von der Band "The Who" 1967 herausgebrachten Rockoper geht es um den Jungen Tommy, der in frühester Kindheit einen Mord mit ansehen muss, daraufhin traumatisiert, blind und taub und später noch Opfer eines sexuellen Missbrauches wird. mehr Erst als junger Erwachsener kann er sich aus seinem inneren Gefängnis befreien, wird als "Pinball Wizard" ein Meister des Flipperspiels, als solcher schließlich guruhaft verehrt. Er spielt nicht nur mit dem Flipper, sondern auch mit seinen Anhängern, die ihn fallenlassen, schließlich aber geläutert und von seinen Traumata befreit in ihre Mitte aufnehmen.
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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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Leider keine aktuellen Aufführungstermine. |
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