Ensemble © Ludwig Olah
Ensemble © Ludwig Olah

Les Misérables (seit 12/2023)
Staatstheater am Gärtnerplatz, München

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

“Jeder Fanatismus endet in Fatalismus”. Mit diesem Zitat von Voltaire auf dem Bühnenvorhang wird das Publikum von “Les Misérables” begrüßt. Warum Regisseur Josef E. Köpplinger für seine neue Inszenierung gerade diese Worte wählt, erklärt er im Programmheft: Für ihn ist “Les Misérables” nicht wie für die Original-Regisseure Trevor Nunn und John Caird ein Stück über Gott, sondern ein Stück, dass aufzeigt, wie fatal es ist, ein System – und sei mit den besten Absichten – mit Gewalt ändern zu wollen. In seiner Inszenierung zeigt sich dieser Gedanke vor allem in der Konzentration auf die Protagonisten und ihren Schicksalen. Was auf den ersten Blick wie eine solide, aber dennoch herkömmliche Produktion erscheint, ermöglicht es auf dem zweiten Blick, der Geschichte viele neue Aspekte abzugewinnen und die Aktualität zu erkennen, die “Les Misérables” bis in die heutige Zeit hat.

Schon längere Zeit war es auf den deutschsprachigen Bühnen recht still geworden um die Show, die in den 80ern und 90ern als “Mega-Musical” weltweit omnipräsent war. Merkwürdigerweise wurde das hiesige Publikum nie richtig warm mit der Show; es gab zwar Spielzeiten in den großen Musical-Tempeln in Wien, Duisburg und Berlin und hin und wieder tauchten Inszenierungen bei den Open-Air-Festivals und in den Stadttheatern auf – an den weltweiten Hype konnte die Musical-Version von Victor Hugos “Die Elenden” im deutschsprachigen Raum aber nie anschließen.

Umso gespannter richten sich jetzt die Augen auf die Neu-Inszenierung in St. Gallen, die im Frühjahr 2024 dann auch im Münchner Gärtnerplatztheater zu sehen sein wird. Bis heute wacht Cameron Mackintosh als Rechteinhaber mit Argusaugen über die Produktionen von “Les Misérables”. Keine Casting-Entscheidung, kein Bühnenbild und keine Kostüme, die nicht seiner Freigabe bedürfen. Von daher ist es auch nicht erstaunlich, dass sich auch die St. Gallener Fassung nicht zu weit von der Original-Inszenierung entfernt. Vielleicht sind die Barrikaden in St. Gallen nicht so hoch wie die in London oder anderswo auf der Welt, vielleicht stürzt sich Javert nicht ganz so eindrucksvoll von der Brücke in den Tod – durch das Weglassen der großen Wow-Effekte gelingt allerdings der Fokus auf die Figuren viel besser und die vermeintlich kleinere Inszenierung wird dadurch viel größer. Ein Gänsehautmoment abseits der großen Songs der Show entsteht beispielsweiße, wenn Cosette und Marius zum sterbenden Valjean eilen und sich für den Bruchteil einer Sekunde die Blicke von Fantine und Cosette treffen. Obwohl Cosette ihre verstorbene Mutter nicht wirklich wahrnehmen kann, hält sie kurz irritiert inne bevor sie sich wieder fängt und sich wieder auf ihren Vater konzentriert. Lediglich die sehr opernhafte Regie-Entscheidung, die Darsteller in ihren Solis genau in der Bühnenmitte zu platzieren und ihre Songs direkt ans Publikum gewandt zu singen, durchbricht die Imagination, dass die Figuren auf der Bühne in Momenten der Reflexion tatsächlich auch komplett bei sich sind.

Obwohl die Bühne in St. Gallen kleiner als im Original ist, ist das Bühnenbild enorm wandlungsfähig. Der Bühnenhintergrund besteht in vielen Szenen aus verschiedenen Häuserfassaden, die sich in immer wieder neuen Konstellationen zusammensetzen. So entfalten sich verschiedene Straßenzüge oder beispielsweise der Außenbereich der Fabrik, in der Fantine arbeitet. Besonders beeindruckende Momente entstehen allerdings, wenn die Bühne komplett leer und auch der Hintergrund nur noch eine schwarze Wand ist: Dann werden durch Bühnennebel und verschiedene Lichteinstellungen wundervoll stimmungsvolle Momente eingefangen. Die Szenenwechsel finden oft mit Hilfe der Drehbühne statt. Neue Bühnenelemente wie die Gartenmauer des Hauses, in dem Valjean und Cosette in Paris leben, oder auch die Barrikaden können durch die sich drehende Bühne und einen sich in der Bühnenmitte auf- und absenkenden Vorhang hereingebracht werden, ohne den laufenden Spielbetrieb zu stören. Kostüme und Maske sind detailreich und liebevoll gearbeitet und spiegeln die Zeit der Geschichte wider. Besonders die Wandlung Valjeans vom Galeerenhäftling zum angesehenen Bürgermeister gelingt bemerkenswert gut.

Wenn “Les Misérables” so wie von Köpplinger vorgesehen mit Fokus auf die menschlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen und Abgründe inszeniert wird, braucht es eine Besetzung, die nicht nur gesanglich, sondern auch schauspielerisch auf hohem Niveau agiert. Die St. Gallener Inszenierung kann damit aufwarten. Allen Darstellerinnen und Darstellern auf der Bühne ist eine enorm große Spielfreude anzuerkennen und es entsteht der Eindruck, dass jede noch so kleine Ensemblerolle sich intensiv Gedanken über die Charakterzeichnung gemacht hat.

Auch die Hauptrollen der Show sind ganz großartig besetzt: Armin Kahl schafft es vor allem gleich zu Beginn die Zerrissenheit und das Schwanken Valjeans eindrücklich darzustellen. Obwohl die Handlung den meisten Besuchern der Show bekannt ist, entsteht in der Darstellung Kahls immer wieder ein kurzer, glaubhafter Moment des Zweifelns, welchen Weg Valjean jetzt in seinem Leben einschlagen wird. Wenn er den schwerverletzten Marius durch die Kanalisation von Paris schleppt und schließlich ein letztes Mal auf Javert trifft, schmettert er ihm seine Verachtung trotz der körperlichen Anstrengung eines anderen Mannes auf der Schulter mit einer Kraft entgegen, dass ein anerkennendes Raunen durchs Publikum geht. Sein “Bring ihn heim” ist ein Showstopper im wahrsten Sinne des Wortes.

Seinen Gegenspieler Javert stellt Filippo Strocchi als einen von höchsten moralischen Ansprüchen geprägten und beinahe schon fanatischen Inspektor dar. In seinem Spiel schwingt stets auch eine unterschwellige Art von Arroganz und Überheblichkeit mit, die seiner Figur nochmal eine neue Dimension gibt. Das Zusammenspiel mit Armin Kahl als Valjean wirkt so nochmal gegensätzlicher zueinander. Die Kampfszenen zwischen den beiden wirken komplett brutal und realistisch.

Als Fantine steht Wietske van Tongeren auf der Bühne. Ihre Darstellung der Mutter, die ihre Tochter weggeben musste, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und sich schließlich komplett hergibt, um das Überleben ihrer Tochter zu sichern, ist einfach nur herzzerreißend. Wenn sie bei “Ich hab geträumt vor langer Zeit” von einem besseren Leben träumt, singt sie sich beinahe die Seele aus dem Leib. Wenn der letzte Ton verklungen ist, verharrt das Publikum für einen Moment wie in Schockstarre, bevor ein verdient tosender Applaus einsetzt.

Auch Barbara Obermeiers Rolle als die unglücklich in Marius verliebte Eponine wirkt in der St. Gallener Inszenierung deutlich besser ausgearbeitet. In den Szenen mit Marius entsteht vom ersten Moment an eine glaubhafte Verbindung und noch bevor sie ihre Liebe zum ersten Mal erwähnt, ist völlig klar, worum es ihr eigentlich geht. Auch ihr Solo “Nur für mich” wird verdient mit langem Applaus bedacht und ihr Duett mit Marius “Der Regen” lässt den Zuschauer mit einem wahren Klos im Hals zurück. Marius (Thomas Hohler) und Costette (Kristine Emde) harmonieren sowohl stimmlich als auch schauspielerisch hervorragend miteinander. Kristine Emde gibt mit ihrem glockenhellen Sopran der Costette genau die richtige Leichtigkeit und Thomas Hohler mit seiner einschmeichelnden Stimme das passende Maß an Sympathie und Wärme. Merlin Fargel gibt einen mitreißenden und überzeugenden Studentenführer Enjolras der sich mit seinem “Lied des Volkes” auch für weitere, größere Rollen empfiehlt.

Jogi Kaiser und Dagmar Hellberg sind in den Rollen der Wirtsleute Thénardier für die Auflockerung der dunklen und drückenden Stimmung zuständig und liefern mit ihrem “Herr im Haus” und “Bettler ans Buffet” die Lacher der Show. Der Blick auf die Tages-Besetzungsliste lohnt sich bei einem Besuch dieser Inszenierung. In verschiedenen Vorstellungen stehen auch Katia Bischoff als Eponine, Carin Filipčić als Madame Thénardier und Javert-Darsteller Filippo Strochi als Valjean auf der Bühne.

Im Orchestergraben nimmt das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Koen Schoots Platz. Schoots ist seit Jahren ein Garant dafür, dass der Sound aus dem Orchestergraben von enorm hoher Qualität ist. Bei “Les Misérables” in St. Gallen übertrifft sich Schoots allerdings nochmal selbst. Die Musik klingt so kraftvoll, dass es einen schon bei den ersten Klängen des Prologs in den Sitz drückt und gleichzeitig ausgeschmückt detailreich, wie die Musik von Claude-Michel Schönberg vielleicht noch nie zu hören war.

Im Interview mit der musicalzentrale meint Fantine-Darstellerin Wietske van Tongeren, dass diese Inszenierung von “Les Misérables” zwar nahe am Original sein wird, es allerdings trotzdem Änderungen geben werde und sie jedem nur nahelegen kann, die Show selbst zu sehen. Dieser Empfehlung ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
KREATIVTEAM
Musikalische LeitungKoen Schoots
NachdirigatStéphane Fromageot
InszenierungJosef E. Köpplinger
Choreografie und Co-RegieRicarda Regina Ludigkeit
BühneRainer Sinell
KostümUta Meenen
ChoreinstudierungFranz Obermair
DramaturgieChristina Schmidl
Michael Alexander Rinz
Dance CaptainKatharina Lochmann
RegieassistenzFleur Snow
Alexander Kreuselberg
InspizientIvana Aeschbacher
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
CAST (AKTUELL)
Jean ValjeanArmin Kahl
Filippo Strocchi
JavertDaniel Gutmann
Filippo Strocchi
FantineWietske van Tongeren
ThénardierJogi Kaiser
Alexander Franzen
Madame ThénardierDagmar Hellberg
Carin Filipčić
CosetteKristine Emde
Julia Sturzlbaum
ÉponineBarbara Obermeier
Katia Bischoff
MariusThomas Hohler
Matteo Ivan Rašić
EnjolrasMerlin Fargel
GavrocheKio Bruderer
Jamin Tobler
Elena Haag
Kleine CosetteSofia Cecchini
Josefine Rösch
Ella Rodgo
Kleine ÉponineElla Töpfer
Niva Müller
Charlotte Auersbach
Zweiter Sträfling, Bischof Myriel von Digne, Kunde, Zweiter Bruder, Combeferre, Montparnasse, u.a.Jeremy Boulton
Vierter Sträfling, Zweiter Polizist, Dritter Matrose, Betrunkener Majordomus, u.a.Merlin Fargel
Vierte Arbeiterin, Dritte Hure, Schwangere Bettlerin, Vierte Frau, u.a.Anna Katharina Felke
Huren-Lady, Fünfte Frau, u.a.Evita Komp
Tagelöhner, Zweiter Matrose, Erster Bruder, Joly, Claquesous, Lesgle, u.a.Jacob Romero Kressin
Wirtsfrau, Fabrikmädchen, Vierte Hure, Bettlerin, Achte Frau, u.a.Katharina Lochmann
Bauer, Erster Polizist, Bamatabois, Schauspieler, Jean Prouvaire, Babet, u.a.Peter Neustifter
Zweite Arbeiterin, Alte Frau, Sechste Frau, u.a.Leoni Kristin Oeffinger
Fünfter Sträfling, Vorarbeiter, Fauchelevant, Grantaire, Brujon, u.a.Christian Schleinzer
Dritte Arbeiterin, Kranke Hure, Verliebte, Dritte Frau, u.a.Florine Schnitzel
Dritter Sträfling, Erster Matrose, Schaulustiger, Verliebter, Feuilly, u.a.Thijs Snoek
Dritter Sträfling, Wirt, Zuhälter, Dritter Bruder, Hausknecht, Courfeyrac, u.a.Michael Souschek
Erste Arbeiterin, Perückenmacherin, Siebte Frau, u.a.Meren Verhaegh
EnsembleAnna Katharina Felke
Evita Komp
Katharina Lachmann
Leoni Kristin Oeffinger
Florine Schnitzel
Meren Verhaegh
Jeremy Boulton
Jacob Romero Kressin
Peter Neustifter
Christian Schleinzer
Michael Souschek
Thijs Snoek
ChorChor des Theaters St. Gallen
OrchesterSinfonieorchester St. Gallen
StatisterieStatisterie des Gärtnerplatztheaters München
  
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
TERMINE
Do, 25.04.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Sa, 27.04.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Fr, 03.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Sa, 04.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Mi, 08.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Do, 09.05.2024 18:00Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Do, 16.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Fr, 17.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Mo, 20.05.2024 19:00Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Sa, 25.05.2024 19:30Staatstheater am Gärtnerplatz, München
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 09.12.2023 19:00Theater, St. GallenPremiere
So, 10.12.2023 19:00Theater, St. Gallen
Sa, 16.12.2023 19:30Theater, St. Gallen
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