Tanisha Spring (Rita Hanson) & Andy Karl (Phil Connors) © Manuel Harlan
Tanisha Spring (Rita Hanson) & Andy Karl (Phil Connors) © Manuel Harlan

Groundhog Day (seit 05/2023)
The Old Vic, London

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

Es geht wieder von vorne los, und zwar an dem Ort, an dem es im Jahr 2016 so hoffnungsvoll begonnen hat: im Londoner Old Vic. Die Wiederaufnahme des Musicals “Groundhog Day” an der altehrwürdigen Non-Profit-Bühne außerhalb des West Ends mutet fast ein wenig an wie seine Geschichte. Die Musicaladaption des Spielfilms mit Bill Murray aus dem Jahr 1993 erzählt vom Schicksal des arroganten TV-Wetter-Manns Phil Connors, der anlässlich des jährlich am 2. Februar stattfindenden Murmeltiertages von seinem Sender in die amerikanische Provinz geschickt wird, um von dort über die Wetter-Prophezeiung eines eigens hierfür in Szene gesetzten Nagers zu berichten. Die Story dürfte hinlänglich bekannt sein: Phil gerät in eine Zeitfalle, muss in dem gottverlassenen Nest immer wieder aufs Neue den immer gleichen Tag durchleben und begibt sich auf die Suche nach einem Weg aus dieser Endlosspirale. Das alles ist nicht neu. Auch nicht, dass “Groundhog Day” ein fantastisches Musical ist, in das man sich schockverliebt.

Bei der Laurence-Olivier-Awards-Verleihung im Jahr 2017 wurde das Stück als bestes neues Musical und Hauptdarsteller Andy Karl als bester Darsteller ausgezeichnet. Derart hochdekoriert hielt das Werk 2017 am Broadway Einzug, wo es trotz sieben Tony-Award-Nominierungen jedoch von Anfang an mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, nicht zuletzt mit einer Verletzung von Andy Karl unmittelbar vor der Premiere. Nach nur 176 regulären Vorstellungen war Schluss und auch die angekündigte Tournee fand nicht statt. Nun also auf ein Neues! Viel geändert hat sich gegenüber der Originalproduktion nicht: So wurde etwa die Bühnentechnik ein wenig abgespeckt, um das Set von Rob Howell im Grundsatz tourneetauglicher zu gestalten. Zudem erhielt das Stück eine neue Choreografie, wofür Lizzi Gee engagiert wurde.

Wieder dabei ist hingegen Andy Karl in der Hauptrolle. Karls Leistung ist fabelhaft: Nahezu während des gesamten Stückes steht er auf der Bühne, überzeugt dabei schauspielerisch und stimmlich und letztlich auch mit einer beeindruckenden Körperlichkeit. Eine mitreißende Performance! Karl ist in der Rolle noch schäbiger, emotional abgestumpfter und zynischer als es Bill Murray war. Phil Connors ist ein Mensch, der noch lernen muss, sich für andere Menschen zu interessieren. Am Ende des Stückes wird er diese Lektion gelernt haben. Zu Beginn verachtet Phil mit seiner urbanen Überheblichkeit das Provinzkaff Punxsutawney in Pennsylvania und seine Einwohner: “Small towns, tiny minds, big mouths, small ideas”. Er bewundert die “Hinterwäldler” dafür, überhaupt aus dem Bett zu kommen, um einen weiteren Tag in einem so kleinen “Scheißloch” zu erleben und hätte lieber Golfplätze, wo stattdessen nur Heuhaufen und Pferde vorzufinden sind. Im ersten Akt durchlebt er dabei unterschiedliche Zyklen, die einmal von extremer Verunsicherung und Frustration geprägt sind und ein anderes Mal von einem extrem ausschweifenden Lebensstil, der im wahrsten Sinne des Wortes kein Morgen kennt. Es ist hinreißend, wie Karl im zweiten Akt die Komplexität des Wandels darstellerisch vollzieht und Phils Veränderung zu mehr Menschlichkeit äußerst subtil und glaubhaft gestaltet. Dies gelingt ihm mit einem perfekten Timing und vor allem dadurch, dass er Phil dabei nicht einfach als besseren Menschen spielt, sondern als jemanden, der sein bisheriges egoistisches Ich nicht verleugnet, aber damit umzugehen lernt. Das bisherige Arschloch kriegt also sozusagen endlich sein Arschloch-sein in den Griff, ohne sofort ein anderer Mensch zu werden. Tatsächlich ändert sich jedoch, dass er zwischenmenschliche Beziehungen wertzuschätzen lernt. Das macht das bewusst romantisch-kitschig gestaltete Ende so glaubwürdig, berührend und erhaben, was einen seltenen Glücksfall darstellt.

“They all told me he would be an asshole … and he is” singt Rita Hanson in ihr Tagebuch. Rita ist die Nachwuchs-TV-Produzentin, an der sich Phil mit seinen unendlichen Eroberungsbemühungen die Zähne ausbeißt. In dieser Wiederaufnahme wird sie von Tanisha Spring verkörpert, die über eine großartige Stimme und eine strahlende Bühnenpräsenz verfügt. Obwohl ihre Rolle den Nachteil hat, dass Rita im Gegensatz zu Phil im immer gleichen 24-Stunden-Rahmen agiert und daher bei ihr jeden Morgen der Reset-Knopf gedrückt wird, gelingt Spring das Kunststück, ihren Part mit vielen feinen Nuancen den ganzen Abend über spannend zu halten. Ihre Rita hat eine starke Persönlichkeit; sie weiß, was sie will und was sie nicht will und weist Phil mit ihrer Selbstbestimmtheit als Vorbild unbewusst den Weg aus der Falle. Überdies funktioniert die Bühnenchemie zwischen den beiden Hauptdarstellern großartig.

Das Stück ist allerdings auch in den Nebenfiguren herausragend besetzt. Beispielhaft erwähnt sei hierfür Eve Norris, die als Nancy zu sehen ist. Hinsichtlich der Figurenentwicklung geht das Bühnenstück weiter als der Film, denn es beleuchtet auch die Hintergrundgeschichten von Rita, Phils früheren Highschool-Kameraden Ned Ryerson und eben Nancy, einem flüchtigen One-Night-Stand von Phil. Diese Nancy taucht wie aus dem Nichts an der Rampe auf und eröffnet mit “Playing Nancy” einen in jeder Hinsicht großartigen zweiten Akt. Ein wunderschöner Song, mit dem das persönliche Drama einer Kleinstadtfrau erzählt wird, die nicht mehr nur als attraktive und naive Blondine wahrgenommen werden möchte.

Die schöpferische Verwandtschaft des Stückes zu “Matilda” ist unüberseh- und vor allem unüberhörbar. “Groundhog Day” stammt zu zwei Dritteln von den “Matilda”-Machern Tim Minchin und Matthew Warchus. Das letzte Drittel steuert Buchautor Danny Rubin bei, von dem auch die Original-Geschichte zum Film stammt.

Tim Minchin ist der musikalische Mastermind der Show: Seine Songs sind großartig. Atemberaubend brillant sind auch seine Lyrics, denn das Werk verfügt über einen diesbezüglich schier endlosen Einfallsreichtum. “Playing Nancy” etwa thematisiert nicht nur die Sehnsüchte der Kleinstadt-Blondine, sondern spielt gleichsam augenzwinkernd mit einem Durchbrechen der vierten Wand, indem auf einer Meta-Ebene der Kampf von Frauen im Showbusiness um künstlerische Wertschätzung thematisiert wird: “I’m not really one for askin’, I’ll play whatever role I’m cast in, will smile with perfect teeth, and grimace underneath”. Minchins Partitur ist stilistisch äußerst vielfältig: Marsch-Rhythmen einer typisch amerikanischen Blaskapelle sind ebenso vertreten wie nervöse jazzige Elemente, launiger Country, treibende Up-Tempo-Nummern, bewegende Balladen und düsterer Grunge-Rock. Dabei ist es faszinierend zu beobachten, welche inhaltlichen Verbindungen zwischen den beiden Stücken bestehen: So korreliert etwa der druckvolle Song “If I Had My Time Again” aus “Groundhog Day” unmittelbar mit der unschuldigen Ballade “When I Grow Up” aus “Matilda”, nur dass sich eben die Perspektiven unterscheiden. Eine weitere Parallele zu “Matilda” ist die Vielzahl eindrucksvoller Momente voller Theatralik in der Show, die sich tief ins Langzeitgedächtnis einbrennen. Auch nur beispielhaft erwähnt sei hier das jeweilige Abschlussbild: Bei “Matilda” war es das von Matilda und Miss Honey, die mit einem gemeinsamen Radschlag den ersten Schritt in eine gemeinsame Zukunft machen. In “Groundhog Day” findet dieser Moment seine Entsprechung in dem theatralischen Bild von Phil und Rita auf einer Parkbank vor einem Sonnenaufgang. Der Sonnenaufgang eines neuen Tages, auf den Phil schon längst nicht mehr zu hoffen wagte. Ein Blick in die vielen beseelten Gesichter im Publikum offenbart dabei, wie sehr dieses Musical die Besucher berührt.

Inszeniert hat die fabelhafte Show Matthew Warchus, der im Zusammenspiel mit Tim Minchin eine schier unbändige Lust aufs Theatermachen an den Tag legt. Oft fragt man sich bei Musicaladaptionen von Spielfilmen nach dem Sinn, zumal deren Unterhaltungswert häufig zu wünschen übrig lässt, da sich die Inszenierung in aller Regel auf die schlichte Reproduktion einer hinlänglich bekannten Vorlage reduziert. Bei “Groundhog Day” stellt sich diese Frage nicht. Warchus und Minchin nehmen sich das Material der Vorlage und spielen nach Herzenslust damit, um es in eine theatralische Form mit Witz, Tiefgang und Hintersinn zu bringen. Dabei schaffen sie völlig neue Strukturen für den inneren Aufbau eines Musicals, was letztlich vor allem aus den ständigen Wiederholungen der Story resultiert. Es ist ein pures Vergnügen, wie sie das Tempo, den Schwerpunkt oder auch die Aussage einer sich ständig wiederholenden Szene variieren und diese stets grundlegend neu erfinden.

Die Inszenierung besticht dabei durch einen hinreißend extravaganten Erfindungsreichtum: Warchus setzt etwa eine Schneeballschlacht auf offener Theaterbühne oder eine Stepptanznummer in Szene, in der ein Murmeltier am Schlagzeug sitzt. Manchmal setzt er auf einfachste Theatertricks, indem er eine Autoverfolgungsjagd mit kleinen Modellen auf die Bühne bringt, die von Darstellern in schwarzen Kostümen vor schwarzem Hintergrund so bewegt werden, dass sich für den Zuschauer der Eindruck einer Vogelperspektive ergibt. Bei anderen Szenen handelt es sich um ausgeklügelte theatralische Illusionen wie etwa für den Song “Hope”, bei dem sich Phil mehrere Male umbringt und die Illusion geschaffen wird, dass sich der eben an einer völlig anderen Bühnenstelle zu Tode gekommene Phil in Sekundenbruchteilen wieder in seinem Bett materialisiert, wo der Alarmwecker-Terror sofort von Neuem beginnt. Das begeisterte Publikum honoriert jeden dieser Wiederauferstehungseffekte mit tosendem Szenenapplaus. In diesem Moment – es ist der zweite Song des zweiten Aktes – erreicht die Show eine Qualität, die sie bis zum Finale in berauschender Art und Weise nicht mehr verliert.

Die Bühnenversion von “Groundhog Day” ist manchmal kammermusikalisch klein, manchmal Vergnügungspark-bunt, manchmal rotzig wie ein Hinterhof, manchmal albern, sehr oft hochintelligent und manchmal so depressiv, dass sich das Old Vic in seiner Stückbeschreibung dazu genötigt sieht, auf die Thematisierung einiger emotional dunklerer Phasen aufmerksam zu machen und die Links zu seelsorgerischen Beratungsinstitutionen gleich mitzuliefern. Zudem ist es voller Romantik und voller Weisheit, selbst an Therapien und Religionen arbeitet es sich ab. Das Stück thematisiert ungewöhnlich viele Facetten der menschlichen Existenz und ist viel mehr als nur die Musicalfassung eines Erfolgsfilms: Hinter der Fassade einer romantischen Komödie wird hier oft nicht weniger als der Sinn des Lebens verhandelt. “Groundhog Day” ist ein seltenes Musical-Juwel, das man sich immer wieder anschauen möchte. Und nochmal. Und nochmal. Und nochmal…

 
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KREATIVTEAM
Musik / TextTim Minchin
BuchDanny Rubin
InszenierungMatthew Warchus
ChoreographieLizzi Gee
Bühne / KostümeRob Howell
Orchestrierungen / zusätzl. MusikChristopher Nightingale
LichtHugh Vanstone
SoundSimon Baker
IllusionenPaul Kieve
Musikal. LeitungAlan Berry
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
CAST (AKTUELL)
Phil ConnorsAndy Karl
Rita HansonTanisha Spring
Debbie / EnsembleKamilla Fernandes
Joelle / EnsembleAimee Fisher
Ralph / EnsembleNick Hayes
Piano Teacher / EnsembleJacqueline Hughes
Larry / EnsembleAshlee Irish
Gus / EnsembleChris Jenkins
Ned Ryerson / EnsembleAndrew Langtree
Fred / EnsembleBilly Nevers
Nancy / EnsembleEve Norris
Sheriff / EnsembleMark Pearce
Buster / EnsembleBen Redfern
Deputy / EnsembleDurone Stokes
Billy / EnsembleAlex Stoll
Jenson / EnsembleJez Unwin
Mrs Lancaster / EnsembleAnnie Wensak
SwingsJasmin Colangelo
Kelly Ewans-Prouse
Zack Guest
Matthew Whennell-Clark
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 20.05.2023 19:30The Old Vic, LondonPreview
Mo, 22.05.2023 19:30The Old Vic, LondonPreview
Di, 23.05.2023 19:30The Old Vic, LondonPreview
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