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 Gesellschaftssatire
Chicago Razzle Dazzle All That Jazz
© Manja Herrmann
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Broadway-Feeling an der Wesermündung: Das Stadttheater Bremerhaven beweist mit dieser "Chicago"-Inszenierung von Felix Seiler, dass ein kleines, kommunal finanziertes Theater mit dem richtigen Kreativ-Team und einer wohl dosierten Mischung aus Musical-Profis und hauseigenen Darstellern durchaus ein Musical auf höchstem Niveau auf die Bühne zaubern kann.
(Text: kw) Premiere: | | 19.09.2020 | Letzte bekannte Aufführung: | | 15.04.2021 | Showlänge: | | 105 Minuten (ggf. inkl. Pause) |
Eine Kämpferin im Look von Lara Croft zielt mit einem modernen Maschinengewehr auf die Darsteller auf der Bühne und das Publikum im Saal. Dieses verwirrende Schlussbild wirkt zur Reprise von "All That Jazz" wie ein Fremdkörper in Felix Seilers Inszenierung, die davon abgesehen mit Showgirls, viel Glitter und Tanz ganz der Revue der 1920er Jahre verpflichtet ist. Warum der Regisseur damit im Finale bewusst bricht und ein drohendes Gemetzel andeutet, bleibt sein Geheimnis.
Verortet ist Seilers ansonsten werkgetreue, handwerklich sehr gut gemachte Inszenierung in einer Backsteinziegel-Industriehalle, in der drei hintereinander hängende, die gesamte Bühnenbreite einnehmende Stege auf- und abwärtsfahren. Hiermit schafft Bühnenbildner Hartmut Schörghofer vielfältige Auftritts- und Spielmöglichkeiten. Gezeichnete Hintergrundprospekte und nur wenige Versatzstücke versprühen authentischen 1920er-Chicago-Charme.
© Manja Herrmann
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Seiler nutzt die sich anbietenden, verschiedenen Spielebenen perfekt aus und postiert zum Beispiel die sechs Mörderinnen im "Cell Block Tango" oben auf einem der Stege, während das Ballett unter ihnen auf der Bühne lasziv-akrobatisch tanzt. Das achtköpfige Ballett-Ensemble ist fast das gesamte Stück hindurch präsent und immerwährend aktiv. In Andrea Danae Kingstons anspruchsvollen Choreografien stellt es seine Leistungs- und Wandlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis, vor allem solistisch auch als pantomimische Doubles wie im Song "Mr. Cellophane" oder in Velmas "I Can't Do it Alone". Richtig witzig sind die tanzenden Schwangeren und Krankenpfleger, die zu Roxies "Me and My Baby" Luftballon-Köpfe gebären.
Seiler gelingen in seiner Inszenierung immer wieder frappierend schöne, überraschende Bilder, wie zum Beispiel im Song "Roxie": Während die Sängerin vor einer Spiegelwand agiert, tanzen dahinter ausgeleuchtete Showgirls und -boys mit der Wirkung, dass es aussieht als würde sie gemeinsam mit einer Chorus-Line aufreten. Julia Schnittger hat hierzu ein verschwenderisch anmutendes, in Gold und Silber funkelndes, körperbetontes Revue-Kostümbild entworfen. Und unter manchem schlicht-mausgrauen Gefängnis-Outfit schlummern glitzernde Pailletten-Schnüre auf raffiniert geschnittenen Charleston-Kleidern…
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Einfach brillant ist auch der Cast: Frank Winkels ist ein charismatischer, die Strippen in der Hand haltender Winkeladvokat Billy Flynn, der Medien wie Mandantinnen mühelos um den Finger wickelt. Sein einschmeichelnder, samtiger Bariton unterstreicht das in Songs wie "All I Care About" und "Razzle Dazzle". Ebenso zwielichtig kommt Mona Graw als geschäftstüchtige "Gefängnis-Glucke" Mama Morton daher, die mit dunkel timbrierter Stimme im Showstopper "When You're good to Mama" Akzente setzt. Ein auf den Punkt besetztes Musical-Vollprofi-Mörderinnen-Gespann sind Jasmin Eberl und Valentina Inzko Fink als Velma Kelly und Roxie Heart. Zunächst spinnefeind, durchschauen sie die verlogene Welt der Medien und erkennen, dass sie nur als Paar im Show-Olymp ankommen können. Diesen erreichen Eberl und Inzko Fink mit grandiosem Gesang und Tanz im Song "Nowadays".
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Doch auch das hauseigene Musiktheater-Ensemble braucht sich nicht zu verstecken: Sängerinnen des Opernchores glänzen stimmlich auf der Bühne als Mörderinnen, während der gesamte Sing-Klangkörper locker-leicht aus dem Off zu hören ist. Lediglich die Herren klingen bei "When Velma Takes the Stand" zu sehr klassisch nach Oper. Mackenzie Gallinger gibt einen rollendeckend unscheinbarer Amos Hart, der mit "Mr. Cellophane" einen grandiosen Auftritt hinlegt. Klatschreporterin Mary Sunshine wird in dieser Inszenierung nicht wie gewohnt als Hosenrolle angelegt, mit dem Vorteil, dass Victoria Kunze mit perfekt ausgesungenen, glasklaren Koloraturen auftrumpfen kann.
Einen kleinen Wehrmutstropfen beschert dann doch die Corona-Pandemie der Inszenierung: Davide Perniceni und seine Musiker des Philharmonischen Orchesters sitzen nicht auf ihren angestammten Plätzen im Orchestergraben vor der Bühne, sondern sind aufgrund des Hygiene-Konzeptes auf eine angrenzende Probebühne verbannt. Von hier wird die musikalische Begleitung via Lautsprecher in den Theatersaal übertragen. Aus Vernunftsgründen eine nachvollziehbare Lösung, die Kanders Partitur jedoch eigenartig distanziert und zahnlos klingen lässt. Dass in den Musikern steckt, lässt sich erahnen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Notlösung sich irgendwann erübrigt und diese grandiose "Chicago"-Produktion die musikalische Umsetzung erhält, die ihr zweifelsohne zusteht.
(Text: Kai Wulfes)

Verwandte Themen: Hintergrund: 3 Fragen an... Felix Seiler (09.09.2020)
Kreativteam
Besetzung
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Zuschauer-Rezensionen
Die hier wiedergegebenen Bewertungen sind Meinungen einzelner Zuschauer und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Musicalzentrale.
 2 Zuschauer haben eine Wertung abgegeben:

    32203 ...packendes und kreatives Musiktheater auch unter Corona-Bedingungen!
29.09.2020 - Roxie Hart ist ihre Ehe mit dem soliden aber unscheinbaren Amos überdrüssig und stürzt sich in Affären. Als ihr Liebhaber Fred Casely sie abservieren will, greift sie zum Colt und schießt ihn über den Haufen. Denn: Eine Roxie Hart verlässt man(n) nicht so einfach. Eine Roxie Hart ist ein Mädchen mit Ambitionen. Sie will die große Show auf einer noch größeren Bühne, so wie ihr Idol Velma Kelly, die sie prompt im Frauenknast kennenlernt. Velma wartet auf ihren Prozess: Sie hat ihren Ehemann im Bett mit ihrer Schwester erwischt und in einem Anfall von geistiger Unzurechnungsfähigkeit (ihre Verteidigungsstrategie vor Gericht) beide kurzerhand getötet. Nun wartet sie im Gefängnis unter der eisernen Führung von Mama Morton auf ihre Verhandlung. Die Presse ist begeistert von den mörderischen Mädels: Besonders Klatschkolumnistin Mary Sunshine bringt immer neue haarsträubende Enthüllungen, die ihr von Staranwalt Billy Flynn charmant-skrupellos in die Feder diktiert werden. Geschickt manipuliert er die Presse und prägt so die öffentliche Meinung. Das Ergebnis: Velma und Roxie werden freigesprochen und starten gemeinsam eine fulminante Karriere auf der Vaudeville-Bühne.
Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Blechernd klingt das Orchester aus den Boxen. Roxie liegt in ihrem Bett, wartet auf ihren Liebhaber und träumt von ihren Idol Velma Kelly, die plötzlich aus dem Schrank hüpft und gemeinsam mit drei Tänzern zu „All That Jazz“ Roxie und ihren Lover umtanzt. Statt großer Shownummer sah dies für mich eher nach Kammerspiel aus. Statt mit einem grandiosen „BÄHM!“ begann die Show mit einem verhaltenen „Pling!“. Ich stellte mir ängstlich die Frage „Geht das nun so weiter?“.
Nein! Es ging nicht so weiter! Erst der Mord an Fred Casely ermöglicht es Roxie, der Enge ihrer kleinen, unbedeutenden Welt zu entfliehen. Und so öffnet sich die Bühne wie die Büchse der Pandora und präsentiert das Spiel um Mord, Korruption und Manipulation: Spätestens beim „Cell Block Tango“ hatte ich sie, meine große Show!
Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Ja, es geht, und dazu auch noch ganz großartig! Selten griffen die Künste von Regie, Choreografie, Bühne und Kostüm so ineinander wie in dieser Inszenierung. Regisseur Felix Seiler machte aus der Not eine Tugend und zauberte aus den vorgegebenen 90 Minuten Spielzeit ohne Pause eine straffe Inszenierung, in der ein Highlight vom nächsten Highlight abgelöst wird. Fein differenziert zeigte sich seine Personenführung und überraschte mit ungewöhnlichen und witzigen Ideen. Großes Lob: Trotz Kürzung bzw. Straffung der Handlung hatte ich nicht das Gefühl, dass mir wesentliche Inhalte gefehlt hätten. Andrea Danae Kingston bot eine kreative und anspruchsvolle Choreografie und sorgt so – trotz Abstandsregelung – für abwechslungsreiche Bewegungsabläufe. Seiler und Kingston scheinen ein eingespieltes Team zu sein: Häufig war nicht nachvollziehbar, wo die Regie aufhörte und die Choreografie begann. Das Bühnenbild von Hartmut Schörghofer schafft stimmige Spielebenen und unterstützt die vorgegebene Distanz zwischen den Darstellern ohne an Atmosphäre einzubüßen. Die ansprechenden Kostüme von Julia Schnittger glänzen im 20er-Jahre-Look mit einem Touch Modernität.
Vier von den sechs Hauptrollen sind mit Musical-Profis besetzt: Valentina Inzko Fink gibt das naive Blondchen Roxie Hart mit einer gehörigen Prise Durchtriebenheit. Die Velma Kelly von Jasmin Eberl trieft vor ordinärem Selbstbewusstsein, lässt durchaus hinter der taffen Fassade Verletzlichkeit durchschimmern. Beide Ladies punkten mit grandiosen Stimmen, tänzerischem Können und einer Menge Sex-Appeal. Frank Winkels als Billy Flynn ist ein absoluter WoMenizer (

Henry Higgins (12 Bewertungen, ∅ 4.3 Sterne)
    32201 Hervorragend gelöst
24.09.2020 - Für diese schwere Zeit eine Meisterleistung....Corona verbannt das Orchester ins off, die Akteure auf Abstand und das ganze Stück auf 90 Minuten. Was hinter der Maske dann herauskam war eine Meisterleistung, Chapeau für alle Beteiligten hinter, neben und auf der Bühne.

Katibossi123 (erste Bewertung)

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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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