Hexen im Höhenflug und ein kurzlebiger Vampir. Revivals mit neuen Ideen und Wiederaufnahmen, die aussehen wie vor 20 Jahren. Ein erfolgreicher Löwe und ein schwungloser Affenmensch. Die Tops und Flops am Broadway liegen auch 2006 wieder dicht beieinander.
Mit einem Paukenschlag beginnt das Broadway-Jahr 2006, als The Phantom of the Opera am 9. Januar den ersten Platz der Long-Run-Musical-Liste einnimmt. 7486 Vorstellungen benötigte die Cameron-Mackintosh-Produktion, um den bisherigen Spitzenreiter Cats zu überrunden. Als letzter Vertreter des vor einigen Jahren noch so erfolgreichen Genres Pop-Oper hält das Phantom die Stellung am Broadway.
Doch seine Nachfolger haben es nicht leicht. 2006 erzählt der Vampir „Lestat“ zu Songs von Elton John seine dramatische Lebensgeschichte. Eine gute Besetzung und stimmungsvolle Bühnenbilder reichen nicht, um das unausgegorene Buch und Johns mit wenigen Höhepunkten gespickte Partitur auszugleichen. Schwere Zeiten für Vampire, aber auch für dramatische Musicals mit tragischer Story.
Der große Überraschungshit aus 2005, Jersey Boys, eine Compilation-Show zur Karriere der Pop-Band „The Four Seasons“, setzt seinen Triumphzug auch im zweiten Jahr fort: Das August Wilson Theatre ist regelmäßig ausverkauft. Nicht zuletzt deshalb gehen drei neue Compilation-Shows an den Start. „Ring of Fire“ ist wegen des schwachen Buches eine langweilige Revue mit Country-Songs von Johnny Cash. Für „Hot Feet“ wird um die Pop-Hits von Earth, Wind & Fire eine schwache Mephisto-Handlung zu originellen Choreographien gestrickt. In „The Times They Are A-Changin'“ sollen die gehaltvollen Songs von Bob Dylan einer oberflächlichen Liebesgeschichte Tiefe verleihen.
All diese Versuche werden von den Zuschauern nicht angenommen und verschwinden nach weniger als drei Monaten von der Bildfläche. Schade, dass die Produzenten sich mit dem Erfolgsrezept der „Jersey Boys“ so schwer tun. Ein Musical über die Karriere des Johnny Cash zum Beispiel wäre mit Sicherheit besser angekommen als die seelenlose Revue „Ring of Fire“.
Besser läuft es in diesem Jahr für Revivals. Dank werbewirksamer Besetzung mit TV-, Pop- oder Broadway-Stars und einer von vornherein begrenzten Spielzeit gehören The Pajama Game mit Harry Connick jr. und „The Threepenny Opera“ mit Alan Cumming und Cyndi Lauper zu den erfolgreichsten Neuproduktionen der ersten Jahreshälfte. A Chorus Line und Les Misérables kommen als annähernde Duplikate der Originalproduktionen auf die Bühne. Ob das, insbesondere im Fall von „A Chorus Line“, dessen Uraufführung schließlich schon mehr als 30 Jahre zurück liegt und somit einen ganz anderen Zeitgeist repräsentiert, die richtige Entscheidung war, wird die Zukunft zeigen.
Für Sondheims Company greift Regisseur John Doyle wieder auf das viel diskutierte Prinzip aus Sweeney Todd zurück, die Schauspieler auf der Bühne selbst musizieren zu lassen. Wirklich innovativ ist dieses Muster nun nicht mehr, trotzdem bescheinigen ihm die Kritiker, dass er damit „Company“ eine dringend benötigte Frische zugeführt hat.
Bekannte Namen sorgen oft für glänzende Auslastungszahlen der Theater. Bestes Beispiel dafür ist in diesem Jahr R’n’B-Star Usher, der als Billy Flynn Chicago mehrere Wochen lang ein volles Haus beschert. Relativ neu ist die Entwicklung, dass Teilnehmer aus Casting-Shows oder ähnlichen TV-Spielereien als Hauptdarsteller in die großen Theater wandern. Josh Strickland, als Tarzan in einer Disney-Welturaufführung zu sehen, Jennifer Hudson, laut Kritikern die große Abräumerin der „Dreamgirls“-Verfilmung, und Constantine Maroulis, der nach The Wedding Singer zu „Jacques Brel is Alive…“ wechselt, haben ihren Ruhm aus der Show „American Idol“ genutzt, um sich in der Broadway-Szene einen Namen zu machen.
Da ist es fast eine logische Folge, dass als nächster Schritt eine Casting-Show speziell für ein Musical gestartet wird. Nachdem die Briten es für The Sound of Music erfolgreich vorgemacht haben, laufen seit mehreren Monaten die Vorbereitungen zu „You’re the One That I Want“. In dieser Show, die Anfang 2007 im US-Fernsehen startet, werden die Hauptrollen Sandy und Danny für ein „Grease“-Revival von den Zuschauern gewählt.
Doch auch No-Names wie Lisa Rinna und Mario Lopez sind plötzlich für große Broadway-Rollen im Gespräch. Diesen abrupten Karrieresprung verdanken die eher unbedeutenden Seriendarsteller der erfolgreichen Voting-Show „Dancing With the Stars“ (das deutsche Gegenstück dazu lief bei RTL unter dem Titel „Let’s Dance“). Rinna könnte als „Chicago“-Mörderin Roxie Hart zum Einsatz kommen. Lopez wird gleich mit zwei großen Rollen in Verbindung gebracht: Leo Bloom („The Producers“) und Billy Flynn.
Mit The Drowsy Chaperone gehen die Produzenten das Risiko ein, einem Broadway-unerfahrenen Autorenteam und einem Originalstoff zu vertrauen. Anfangs liegen die wöchentlichen Einnahmen deutlich unter 500.000 Dollar. Gute Kritiken sowie die Begeisterung des Publikums über die anrührende Geschichte eines Musicalliebhabers, der in seinem Wohnzimmmer sein Lieblingsstück aus den 1920er-Jahren auferstehen lässt, lassen die Kassen immer stärker klingeln. Inzwischen überschreiten die Einnahmen regelmäßig die Millionengrenze. Nach nur 30 Wochen hat das Stück seine Investitionen eingespielt. Ein kleines Musicalwunder – das zeigte sich auch bei der Tony-Awards-Verleihung: „The Drowsy Chaperone“ ist mit fünf Auszeichnungen erfolgreichstes Musical dieser Saison.
Zum Ende des Jahres werden zwei Erfolge aus kleinen Theatern an den Broadway transferiert. „Grey Gardens“ durchleuchtet die Geschichte einer problembeladenen Mutter-Tochter-Beziehung. Die von Presse und Publikum gleichermaßen gefeierte Vorstellung von Christine Ebersole hat der Produktion viele Vorschusslorbeeren eingebracht. Es ist aber fraglich, ob dieses Stück mit seiner schwierigen, für Musicaltheater ungewöhnlichen Geschichte auf Dauer genügend Zuschauer anziehen wird.
Die zweite am Off-Broadway herangezogene Produktion ist Spring Awakening. Basierend auf dem deutschen Drama „Frühlings Erwachen“ erzählt das Musical von dem Umgang dreier Teenager mit ihrer erwachenden Sexualität. Neben den teilweise sehr drastischen Texten sorgt vor allem die Musik für Aufsehen. Die Kritiker bescheinigen Komponist Duncan Sheik, dass er richtig gute, innovative Rockmusik geschrieben hat. Insofern wendet sich das Stück an ein anderes Publikum als die herkömmlichen Musicals. Glänzende Kritiken nach der Premiere führen zu einem starken Anstieg der Vorverkaufsergebnisse.
Pünktlich zum Weihnachtsgeschäft treffen im November zwei Familienmusicals in New York ein: Mary Poppins und „How the Grinch Stole Christmas“. Für das phantastische Kindermädchen hat der immer noch erfolgreiche König der Löwen das große New Amsterdam Theatre geräumt. Große Erwartungen werden also an sie geknüpft. Den „Grinch“, diesen fiesen, grünhäutigen Charakter, der den Menschen das Weihnachtsfest verderben will, kennt in Amerika jedes Kind. Und so ist es kein Wunder, dass dieses Musical, das nur in der Weihnachtszeit bis zum 7. Januar läuft, in einer kitschig-liebenswerten Inszenierung ein großer Hit ist. In der zweiten Dezemberwoche liegen die Einnahmen sogar höher als beim Dauerfavoriten Wicked.
Und damit zu den Stücken, die sich bereits am Broadway etabliert haben; allen voran natürlich das weiterhin ständig ausverkaufte „Wicked“. Im November 2006 erzielt die Show mit mehr als 1,7 Millionen Dollar die höchste wöchentliche Einnahmesumme, die je am Broadway notiert wurde. Der „Lion King“, inzwischen in seinem zehnten Jahr, ist nicht mehr ständig ausverkauft, durchbricht aber immer noch in fast jeder Woche die Millionen-Dollar-Grenze. Die weiteren Long-Runs – Beauty and the Beast, „Avenue Q“, „Chicago“, Mamma Mia!, „Hairspray“, „Spamalot“, The Color Purple und „Phantom of the Opera“ – haben in der Regel eine relativ gesunde Auslastung zwischen 70 und 90 Prozent. Schwächer sind die Zahlen bei Rent und The Producers. In beiden Fällen deutet sich wohl ein langsames Ende der Broadway-Spielzeit an, im Falle der „The Producers“ wird schon offen darüber geredet, dass Mel Brooks’ nächster Streich „Young Frankenstein“ als Nachfolger im St. James Theatre eingeplant ist.
Das könnte eines der Highlights des kommenden Broadway-Jahres werden, aber es gibt starke Konkurrenz: die Rückkehr der Pop-Oper-Veteranen Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil mit ihrer „Pirate Queen“, der Musical-Krimi „Curtains“ von den Altmeistern John Kander und Fred Ebb sowie die Bühnen-Version der Film-Komödie „Legally Blonde“ (Natürlich blond).
Mitarbeit: Martin Weber