Musical-Autor Michael Kunze über „Wicked“, „Raoul“, Mönchmusicals, Storyarchitektur und den missglückten Ausflug an den Broadway.
Michael Kunze ist Schriftsteller, Songwriter, Dramatiker und bezeichnet sich selbst als Storyarchitekt. Nachdem er sich zunächst mit dem Schreiben von Songtexten einen Namen gemacht hatte („Griechischer Wein“, „Ein Bett im Kornfeld“), begann er in den 1980er Jahren damit, englischsprachige Musicals ins Deutsche zu übersetzen („Das Phantom der Oper“, „Evita“, „Der König der Löwen“). Seit Anfang der 1990er Jahre schreibt Kunze auch eigene Musicals („Elisabeth“, „Tanz der Vampire“, „Rebecca“).
Im November findet in Stuttgart die deutschsprachige Erstaufführung des Musicals „Wicked“ statt, für dessen deutsche Texte Sie verantwortlich zeichnen. Wie sind Sie an das Stück herangegangen?
Ich halte „Wicked“ für eines der wichtigsten Musicals der letzten 20 Jahre. Die Originaltexte von Stephen Schwartz sind Bravourstücke. Die Aufgabe, eine angemessene deutsche Fassung zu schaffen, war eine große Herausforderung. Ich habe versucht, den Stil und den Inhalt der Texte so unverfälscht wie möglich zu erhalten.
Welche Stellen waren besonders schwierig?
Um diese Frage zu beantworten, müsste ich konkrete Beispiele zitieren. Leider ist es mir vertraglich untersagt, vorab die deutschen Texte – auch in Auszügen – bekannt zu machen. Nach der Premiere gern.
Sie sind nicht nur für Ihre Übersetzungen, sondern vor allem auch für Ihre eigenen Werke bekannt. Doch wie geht das vonstatten? Schreiben Sie erst die Texte, die der Komponist anschließend vertont?
Das Schreiben der Texte kommt wie das Komponieren der Musik erst an zweiter Stelle. Zuerst und vor allem baue ich eine dramatische Struktur, die meine Geschichte bühnenwirksam erzählt. Diese konzeptionelle Arbeit ist das Wichtigste. Durch sie entsteht gewissermaßen der Rohbau des Werkgebäudes. Durch Texte und Musik wird das dann ausgestaltet.
Sie bezeichnen sich selbst als Storyarchitekt und Erfinder des DramaMusicals. Doch gab es schon immer auch dramatische und anspruchsvolle Werke auf der Musicalbühne. Was ist das Besondere an Ihren Musicals?
Ich bezeichne mich als Storyarchitekt, um deutlich zu machen, dass meine eigentliche kreative Leistung in der Schaffung dramatischer Strukturen besteht. Das Schreiben der Texte ist im Vergleich dazu zweitrangig. Der Bau eines Musicals gleicht der Konstruktion einer Brücke oder eines Hochhauses. Fundament, Statik, Form, Funktionalität – all das muss stimmen. Dafür habe ich gewisse Prinzipien und ästhetische Kategorien entwickelt, die meine Arbeiten kennzeichnen.
Die da wären?
Ich verwende eine dreiaktige Musicalarchitektur mit entsprechenden dramatischen Wendepunkten, einen genau festgelegten Punkt der Unumkehrbarkeit, gegenläufige Spannungs- und Morallinien, einen Augenblick der Selbsterkenntnis im letzten Achtel der Show, einem kurz davor liegenden retardierenden Moment, reziproke dramatische Ziele und psychologische Bedürfnisse, ein aufeinander abgestimmtes Verhältnis von protagonistischen und antagonistischen Kräften, eine sich steigernde Linie der Herausforderungen und Konflikte, klare Identifikationsmomente, punktgenau platzierte Schlüsselsongs, charakterisierende und inhaltsspezifische Leitmotive, einen sich steigernden Aufbau von Reprisen, musikalischen Setups und vieles mehr. Diese Strukturprinzipien im Detail zu erklären, würde den Rahmen eines Interviews jedoch sprengen.
Einerseits haben Sie sich bei Ihren Eigenproduktionen dem Drama verschrieben, andererseits die deutschen Texte für eine Feel-Good-Show wie „Mamma Mia!“ geschrieben.
Die Adaption ausländischer Shows ist eine Arbeit, die mit meiner Schaffung von Originalmusicals nicht in Verbindung oder Konkurrenz steht. Wenn ich ein internationales Musical ins Deutsche übertrage, verstehe ich mich als die deutsche Stimme des Originalautors. Ich ordne mich dem Original unter. Man könnte sagen: Ich versuche, das Werk noch einmal so auf Deutsch zu schaffen, wie es der Originalautor tun würde, wenn er die Sprache beherrschte.
Wenn man einen Blick auf Ihre Eigenproduktionen wirft, stellt man schnell fest, dass Sie einen Hang zu historischen Persönlichkeiten haben müssen.
Als studierter Historiker habe ich mich immer für Geschichte interessiert. Es gibt gewisse historische Figuren, von denen wir bis zum heutigen Tag viel lernen können. Diese Figuren interessieren mich immer dann, wenn ich ein innere Affinität zu ihnen entdecke.
Wie beginnen Sie das Schreiben an einem Musical, das vom Leben einer historischen Persönlichkeit handelt? Beginnen Sie ganz klassisch, indem Sie Bücher wälzen?
Jeder Umsetzung eines Themas in eine dramatische Form geht eine ausgedehnte Forschungsphase voraus, in der es gilt, den jeweiligen Stoff kennen zu lernen und zu verinnerlichen. Nur auf Basis eines gründlichen Studiums ist es möglich, eine dramatische Struktur zu entwickeln, die Vergangenes gegenwärtig werden lässt.
Sie sollen mit Karel Svoboda („Dracula“) an einem Musical über den orthodoxen Mönch und Wunderheiler Rasputin gearbeitet haben. Wie geht es mit dem Stück weiter, nachdem Svoboda inzwischen gestorben ist?
Das Projekt war für mich wesentlich mit der Kreativität und der Persönlichkeit von Karel Svoboda verbunden. Ich werde es nicht weiter verfolgen.
Stattdessen haben Sie an Ihrer ersten Oper gearbeitet, die im nächsten Jahr am Bremer Theater Premiere feiert. Wie kam der Kontakt zu dem Komponisten Gershon Kingsley zustande, der die Musik zu dieser Oper liefert?
Während der Jahre, in denen ich in New York lebte, habe ich Gershon Kingsley näher kennen gelernt. Da ich beeindruckt war von seinem Holocaust-Oratorium „Voices in the Dark“, kam es zu einer Zusammenarbeit…
…aus der letztendlich die Oper „Raoul“ entstand. Weshalb der Wechsel vom Musical zur Oper? Sehen Sie es als kleinen „Ausflug“ oder vielleicht sogar als „zweites Standbein“?
Es gibt gewisse Stoffe, die sich nicht für die Musicalbühne eignen, aber doch eine musikalische Dramatisierung verlangen. „Raoul“ schildert das Schicksal der von der Vernichtung bedrohten Juden Budapests im Jahre 1944 und dem heroischen Kampf Raoul Wallenbergs, diese Menschen zu retten. Eine Musicalbühne wäre sicher nicht der geeignete Ort, eine solche Geschichte zu präsentieren. Auch musikalisch ist die Oper die bessere Form für einen solchen Stoff.
„Marie Antoinette“ soll 2009 am Bremer Theater seine Europapremiere erleben. Wie kam es dazu, dieses Musical nicht en suite als Großproduktion, sondern an einem Repertoiretheater wie dem Bremer Theater zu zeigen?
Die Planungen sind noch nicht abgeschlossen, aber an eine Repertoireproduktion ist nicht gedacht. Wenn „Marie Antoinette“ nach Deutschland kommt, dann als eine mit der Tokioer Aufführung vergleichbare Großproduktion, die en suite laufen wird.
2008 wird „Mozart!“ wieder in Deutschland zu sehen sein – im Theater Plauen/Zwickau und auf der Freilichtbühne Tecklenburg. Sie haben einmal gesagt, dass sie von der japanischen Inszenierung von „Mozart!“ so begeistert sind, dass sie diese auch mal in Deutschland zeigen möchten. Können wir in Plauen/Zwickau oder Tecklenburg mit der Inszenierung aus Tokio rechen?
Nein, denn für beide Orte sind jeweils eigenständige Inszenierungen geplant.
Wird es für die Neuinszenierungen von „Mozart!“ wieder Änderungen an dem Stück geben? Vielleicht ein neuer Song oder gar Streichungen?
Nein.
„Mozart!“ wurde beständig weiterentwickelt. Allerdings haben Sie beim Schreiben des Librettos anscheinend übersehen, dass Mozarts Mutter nicht Maria Anna, sondern Anna Maria hieß (laut Mozarteum Salzburg)…
…übersehen habe ich das nicht; ich folge da nur anderen Quellen als die Leute im Mozarteum. Da der Name im Stück selbst nicht genannt wird, halte ich den Streit über den richtigen Namen allerdings für irrelevant.
Was denken Sie, in welche Richtung sich das Musical im deutschsprachigen Raum weiterentwickeln wird? Werden wir weiterhin Compilation-Shows vorgesetzt bekommen? Oder wird es eine Wende geben?
Sowohl bei den Compilation-Shows als auch bei den dramatischen Musicals gibt es Perlen und Nieten. Produzenten versuchen, gewisse Trends aufzuspüren. In Wahrheit steht aber jedes Musical für sich. Es muss die Zuschauer faszinieren und emotional berühren. Und es muss eine zwingende dramatische Struktur haben, um ein Erfolg zu werden. Innerhalb dieser Voraussetzungen sind die unterschiedlichsten Formen denkbar. Das Musical wird leben, solange es vielseitig und künstlerisch interessant bleibt. Es ist das vitalste Genre des Theaters.
Was haben Sie eigentlich aus dem Broadway-Flop von „Dance of the Vampires“ gelernt? Ist der Broadway eine Nummer zu groß für Michael Kunze? Warum will ein europäischer Autor überhaupt an den Broadway, wo doch überall nur mit Wasser gekocht wird?
Gelernt habe ich vor allem, dass ich niemals wieder die kreative Kontrolle über eines meiner Werke verlieren darf. Am Broadway lief ja nicht meine Fassung, die seit über zehn Jahren in Europa gespielt wird. Um im Bild des Werkgebäudes zu bleiben: Man hat „tragende Wände“ herausgenommen und das Fundament teilweise gesprengt. Meine Warnungen wurden nicht gehört. Aber dass es so nicht geht, war schon vor der Premiere klar. Der Misserfolg hat mich dann nur bestätigt. Persönlich sehe ich kein Scheitern in dieser Erfahrung, sondern einen ersten Schritt auf fremdes Terrain, vor dem ich heute weit weniger Respekt habe als früher. Wir Europäer können inzwischen durchaus in der internationalen Liga mitspielen.
Verraten Sie uns abschließend noch, an welchen Projekten Sie zurzeit arbeiten?
Ich nehme mir ein Beispiel an den Hühnern. Sie gackern immer erst, wenn ihr Ei im Nest liegt.