In London gab es 2008 so viele neue Musicals wie selten. Aber die meisten waren Fehlschläge: Nur „Zorro“ und der US-Import „Jersey Boys“ konnten sich im Spielplan etablieren.
Das Jahr 2008 wird nicht durch übermäßig viele erfolgreiche Musicalpremieren in die Londoner Annalen eingehen. Dabei sah es zunächst ganz hoffnungsvoll aus, als im Frühjahr mehrere neue Musicals angekündigt wurden. Den Auftakt machte der US-Import Jersey Boys, die Geschichte von Frankie Valli und den Four Seasons mit den Hits der Fünfziger-Jahre-Band. Am Broadway einer der größten Hits der letzten Jahre, konnte es sich seit der Premiere am 18. März auch am West End etablieren.
Weniger Glück war der Musical-Adaption des Film- und Literaturklassikers „Gone with the Wind“ („Vom Winde verweht“) beschieden, die am 22. April im New London Theatre mit Jill Paice und Darius Danesh in den Hauptrollen eröffnet wurde. Auch Regie-Legende Trevor Nunn konnte das magere Musical der Newcomerin Margaret Martin nicht retten. Von den Kritikern vernichtet und vom Publikum nicht angenommen, musste „Gone with the Wind“ nach nur 79 Vorstellungen am 14. Juni schon wieder geschlossen werden.
Nicht viel besser ging es dem Musical Marguerite, mit dem das französische Autoren-Duo Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg („Les Misérables“, „Miss Saigon“) ins West End zurückkehrte – wenn auch nur als Buch- und Textautoren. Für die Musik war Filmkomponist Michel Legrand zuständig. In der Hauptrolle kehrte West-End-Publikumsliebling Ruthie Henshall auf die Bühne zurück. „Marguerite“ verlegte die Handlung der „Kameliendame“ von Alexandre Dumas jr. ins Paris zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – als Dreiecksgeschichte zwischen der Lebedame Marguerite, dem jungen Künstler Arnaud und dem Nazi-Offizier Otto. Vielen waren die Geschichte wohl zu düster und die Personen zu komplex. Premiere war am 20. Mai, schon am 13. September fiel der letzte Vorhang im Royal Haymarket Theatre. Eine weitere Aufführung ist jedoch für 2010 in Paris geplant.
Ein weiterer Flop wurde von vielen Musicalliebhabern dagegen eher mit Erleichterung zur Kenntnis genommen: das Compilation-Musical „Never Forget“, eine Nacherzählung der Erfolgsgeschichte der Boyband „Take That“ (Premiere am 21. Mai im Savoy Theatre). „Never Forget“ hatte schon im Vorfeld für Aufregung gesorgt, da die Mitglieder von „Take That“ nichts mit dem Stück zu tun haben wollten und es zu Rechtsstreitigkeiten kam, bis das Buch geändert wurde: Die Figuren auf der Bühne waren nun fiktive Charaktere, die sich als Mitglieder einer Take-That-Tribute-Band bewerben. Doch was bei „Jersey Boys“ funktionierte, wurde hier zum Flop: „Take That“ und ihre Hits sind wohl noch zu frisch in der kollektiven Erinnerung, um mit einem nostalgischen Musical Kasse zu machen. Der geplante Transfer ins Lyric Theatre wurde abgesagt. Am 11. November fiel der letzte Vorhang für „Never Forget“.
Auch zwei weiteren neuen Musicals war kein Erfolg beschieden: Zum einen das Reggae-Musical „The Harder They Come“, das auf dem Kinofilm von 1972 basierte und das Leben des jamaikanischen Reggae-Stars Jimmy Clift erzählte. Nach zwei erfolgreichen Spielzeiten in Stratford und einem Umweg über das Barbican Theatre kam es am 9. Juni ins Playhouse Theatre, überstand dort aber nur drei Monate.
Ähnlich ging es Zoonations Hip-Hop-Musical „Into the Hoods“, einer Adaption des Sondheim-Werks „Into the Woods“, in der sich zwei Kinder auf der Suche nach einem verlorenen iPod auf den Weg in die ‚Hood‘ (das Viertel) machen und dabei allerhand skurrilen Charakteren begegneten. Beim Edinburgh Festival gefeiert, konnte das Stück, das Musik von Kanye West, Snoop Dogg, Run DMC und den Gorillaz verwendete, kein größeres Publikum anziehen und verabschiedete sich nach zwei Monaten wieder aus dem Novello Theatre.
Nicht viel besser ging es der luftig-leichten Parodie des alljährlichen Eurovision Song Contest, „Eurobeat“, das kurioserweise in Australien seinen Ursprung hatte und zunächst mit großem Erfolg beim Edinburgh Fringe Festival zu sehen war. Von dort gelang der Sprung ins West End, wo am 9. September im Novello Theatre Premiere war. Der Clou des „ersten interaktiven Musicals“ war, dass jeder Zuschauer beim Betreten des Saals die Fahne eines der „Teilnehmerländer“ in die Hand gedrückt bekam und fortan sein Land lautstark unterstützen sollte. Am Ende wurde jeden Abend – genau wie beim richtigen ESC – per SMS der Sieger ermittelt. Doch die Briten waren offenbar Eurovision-müde, und so musste das Stück zwei Wochen früher als geplant schon am 1. November geschlossen werden, um der erfolgreichen RSC-Produktion von „Hamlet“ mit David Tennant (Dr. Who) Platz zu machen.
Das einzige neue Musical, dem es gelang, sich ins Jahr 2009 hinüber zu retten, war das launige Mantel- und Degenabenteuer Zorro mit der Musik der Gipsy Kings, das am 15. Juli im Garrick Theatre Premiere feierte. Eine rundherum gelungene Show mit Hits wie „Bamboleo“ und „Djoba Djoba“. Glücklicherweise ist „Zorro“ dabei mehr als eine Compilationshow, denn die meisten Lieder wurden für das Musical neu geschrieben. Die spanischen Klänge und Flamenco-Nummern passen ausgezeichnet zu der Geschichte, die im spanischen Kalifornien des 19. Jahrhundert angesiedelt ist.
Das letzte neue Musical, das in diesem Jahr uraufgeführt wurde, wird dagegen den Jahreswechsel nicht mehr erleben: Für „Imagine This“ des israelischen Komponisten Shuki Levy kam das Aus schon einen Monat nach der Premiere am 19. November. Die im Warschauer Ghetto angesiedelte Geschichte, in der eine Gruppe jüdischer Schauspieler die Legende von Masada nachspielt, war den Meisten wahrscheinlich einfach zu düster. Auch der nichtssagende Titel, die abgelegene Lage des New London Theatre, die keine Laufkundschaft anzieht, und die Rezession haben wohl ihren Teil beigetragen.
Neben den kurzlebigen Stücken, die 2008 kamen und gingen, verabschiedeten sich auch weitere Musicals aus dem West End: Schon im Februar kam das Aus für das charmante „Fiddler on the Roof“-Revival im Savoy Theatre mit Henry Goodman als Tevje, ebenso wie für die seltsam verquaste neue Version von Jonathan Larson’s Neunziger-Jahre-Hit „Rent“, das unter dem Titel „Rent Remixed“ als „Version für das neue Jahrtausend“ auf die Bühne gebracht worden war. Die neuen Arrangements fanden jedoch kaum Zuspruch, und so verschwand „Rent Remixed“ schon nach wenigen Monaten wieder.
Gerade mal 13 Monate lang hielt es das teuerste Musical aller Zeiten im West End – die Bühnenfassung von Tolkiens Fantasy-Epos Lord of the Rings, die am 19. Juli nach 492 Vorstellungen im Theatre Royal Drury Lane geschlossen wurde. Kritiker hatten kein gutes Haar an der Show gelassen, und auch das Publikum zeigte sich wenig beeindruckt. Gegen den cineastischen Bombast der Filmtrilogie von Peter Jackson hätte es das Musical ohnehin sehr schwer gehabt, doch die bestenfalls mittelmäßige Musik von A. R. Rahman und der finnischen Band Värttinä sowie das schwache Buch von Shaun McKenna und Matthew Warchus konnten der Vorlage ebenfalls nicht gerecht werden. Trotz der wenig zufriedenstellenden Spielzeiten in Toronto und London ist für Ende 2009 eine deutschsprachige Aufführung in Köln geplant.
Zum Jahresende wird sich auch der Monty-Python-Klamauk Spamalot aus dem West End verabschieden. Wenn die Show am 3. Januar im Palace Theatre Dernière feiert, war sie zwei Jahre und drei Monate in London zu sehen gewesen – eine überraschend kurze Laufzeit im Mutterland der Pythons, deren Filme und TV-Sketche zum britischen Volksgut gehören. Daran konnten weder bekannte Namen wie Tim Curry und Sanjeev Bhaskar als King Arthur etwas ändern, noch die schwedische Castingshow-Gewinnerin Nina Söderquist, von der man sich einen Ansturm schwedischer Musicalfans auf das West End erhoffte.
Ein erfreuliches Ereignis aus deutscher Sicht war die Aufführung des Lerner/Loewe-Klassiker’s „Gigi“ im Open Air Theatre Regent’s Park in diesem Sommer. Neben West-End-Stars wie Millicent Martin und dem für die „Anatevka“-Verfilmung Oscar-nominierten Topol als Honoré stand Thomas Borchert als Gaston auf der Bühne und gab damit sein London-Debüt.
Bei den Fringe-Theatern sorgte die Menier Chocolate Factory wieder einmal für Erfolge. Das innovative kleine Theater in Southwark stellte ein gelungenes Revival der Travestie-Komödie „La Cage aux Folles“ auf die Beine, das nach der restlos ausverkauften Spielzeit ins Playhouse Theatre im West End umzog und dort am 14. Oktober Premiere feierte – der nächste erfolgreiche Transfer nach Sondheims „Sunday in the Park with George“ und „Little Shop of Horrors“. Am 22. November erlebte das letzte Musical im Jahr 2008 seine Menier-Premiere und wieder hat man sich an Sondheim gewagt: Diesmal an „A Little Night Music“ mit namhaften Stars wie Maureen Lipman, Alex Hanson und Hannah Waddingham. Die Chancen für einen West-End-Transfer dürften nicht schlecht stehen.
Zwar hat man sich im rührigen Donmar Warehouse in Covent Garden vornehmlich auf Sprechtheater konzertriert, doch auch von dort wurde 2008 ein Musical ins West End transferiert: Pam Gems One-Woman-Show „Piaf“ über das Leben der französischen Sängerin, die von der argentinischen Musicallady Elena Rogers verkörpert wurde. Die Show ist noch bis zum 24. Januar 2009 im Vaudeville Theatre zu sehen.
Ruhiger wurde es in London um die zeitweise extrem gehypten Castingshows im Fernsehen. Am 12. Dezember begannen im Theatre Royal Drury Lane die Previews für das Revival von Lionel Bart’s „Oliver!“. Dafür gelang Produzent Cameron Mackintosh ein doppelter Cast-Coup: Während mit Jodie Prenger eine Newcomerin als Nancy ebenso in einer TV-Castingshow gefunden wurde wie drei alternierende Jungen für die Titelrolle, wurde für die Rolle des Oberganoven Fagin Rowan Atkinson engagiert, der als „Mr. Bean“ berühmt wurde und mit Sicherheit auch ausländische Touristen ins Theater locken wird, die die englischen TV-Castingshows nicht verfolgen konnten.
Einen Rummel wie bei den ersten Castingshows für „The Sound of Music“ und „Joseph“ mit ihren Gewinnern Connie Fisher und Lee Mead scheint es ohnehin nicht mehr so zu geben. Dies lässt darauf hoffen, dass sich das Phänomen der Castingshows im Fernsehen allmählich totgelaufen hat. Andrew Lloyd Webber, der maßgeblich daran beteiligt war, hat sich jedenfalls schon einem anderen Projekt zugewandt: Per TV-Casting soll jemand gefunden werden, der Großbritannien 2009 beim Eurovision Song Contest vertritt – mit einem Song aus Lloyd Webbers Feder.
Während „The Sound of Music“ nach dem Weggang von Connie Fisher einen Einbruch des Zuschauerinteresses hinnehmen musste und Anfang 2009 geschlossen wird, gelang den Produzenten von „Joseph“ ein weiterer Casting-Coup: Wenn Lee Mead aus seinem Vertrag ausscheidet, übernimmt für ihn Gareth Gates, Zweitplatzierter der ersten Staffel von „Pop Idols“ und für viele der heimliche Gewinner. Seine CD und Tournee waren nicht minder erfolgreich als die des Siegers Will Young, um den es seither ebenfalls still geworden ist.
Wie es 2009 im rezessionsgeplagten England weitergehen wird, lässt sich nur vermuten. Das Evergreen „Carousel“ von Rodgers/Hammerstein, das seit dem 2. Dezember im Savoy Theatre wiederaufgeführt wird, dürfte für seine ohnehin begrenzte Spielzeit sein Publikum problemlos finden. Dabei helfen auch zugkräftige Namen wie Lesley Garrett und Alexandra Silber. Auch Andrew Lloyd Webbers „Sunset Boulevard“, das seit 12. Dezember für eine begrenzte Spielzeit aus Newbury ins Londoner Comedy Theatre umzog, wird sicher nicht unter Nachfragemangel leiden.
Während andere Shows schließen oder ums Überleben kämpfen, laufen die drei „Dauerbrenner“ des West Ends unverdrossen weiter: „Les Misérables“ im 23. Jahr, „Phantom of the Opera“ im 22. Jahr und „Blood Brothers“ im 20. Jahr. Auch „Chicago“ im elften Jahr und „We Will Rock You“ im sechsten Jahr sind noch immer gut verkauft, daneben halten sich auch „Billy Elliot“, „Hairspray“ und „Wicked“ erfolgreich im Spielplan. „Avenue Q“ dagegen, die freche Puppenshow aus New York, wird Ende März 2009 geschlossen und auch für „Grease“ im Piccadilly Theatre dürften die Tage gezählt sein.