Komponist Martin Lingnau über den „Schuh des Manitu“, „Das Orangenmädchen“, Walter Moers und das Glück, nicht fest in einer Schublade zu stecken.
Der Komponist Martin Lingnau (37) schreibt Musicals und komponiert für Theater und Fernsehen. Er ist ein direkter Nachfahre des deutschen Dichters Hoffmann von Fallersleben und arbeitet als Pianist für Künstler wie Lucia Aliberti und Udo Lindenberg. Im Musicalbereich hat er sich durch seine Werke wie „Swinging St. Pauli“, „Heiße Ecke“ und „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ einen Namen gemacht, so dass auch Branchenprimus Stage Entertainment auf ihn aufmerksam wurde und ihn die Musik zum Musical „Der Schuh des Manitu“ komponieren ließ.
Im Dezember 2008 feierte Ihr Musical „Der Schuh des Manitu“ seine Uraufführung in Berlin. Wie haben Sie den Kompositionsauftrag bekommen?
Heiko Wohlgemuth und ich sind von der Stage Entertainment angefragt worden, ob wir Interesse hätten, aus dem Film ein Musical zu erarbeiten. Wir haben uns einige Male in kleiner Runde getroffen und einen gemeinsamen Weg gesucht, der uns allen gleichermaßen reizvoll erschien. Da der Film sehr mit dem Medium Film spielt, nahmen wir uns vor, dass das Musical ebenso mit dem Medium Musical spielen sollte. Das klingt sehr einfach und naheliegend, jedoch war diese gemeinsame Grundentscheidung der Startschuss für die Ideenfindung. Dies war die Basis für die Charakterisierung und Entwicklung der Songs. So entstanden zunächst drei Lieder, die an Bully Herbig geschickt wurden – sozusagen unsere Visitenkarte. Ein erster Eindruck, wie es klingen könnte, wenn Lingnau und Wohlgemuth den „Schuh des Manitu“ erarbeiten würden. Bully haben die Songs sehr gefallen und wir waren drin. Zwei der drei Songs sind heute übrigens nahezu unverändert in der Show: „Wo die Schoschonen schön wohnen“ und „Husch, husch“.
War Bully als Kreativberater auch in die musikalische Gestaltung des Musicals involviert oder hatten Sie freie Hand?
Bully hat uns sehr frei arbeiten lassen. Er hat uns vertraut und uns aus der Entfernung mal ein wenig in diese und mal ein wenig in die andere Richtung gelenkt. Es war für uns sehr hilfreich, dass Bully nicht wie wir nahezu täglich am Musical gearbeitet hat. So kam immer wieder frischer Wind von außen ins Projekt, und er hat uns bei der Erweiterung der Figuren geholfen. Wenn wir nach originellen Songideen gesucht haben, hat er uns geholfen, in die Köpfe seiner Figuren zu schauen. Der Drehbuchautor des Films, Alfons Biedermann, war ebenfalls sehr involviert. Aber beide haben stets betont, dass sie „nur“ die Jungs vom Film seien. Wenn sie genau gewusst hätten, wie man ein Musical macht, hätten sie den Film damals schon selbst als Musical auf die Leinwand gebracht. Ich bin allerdings sicher, dass sie es auch damals schon geschafft hätten. Es war eine wirklich sehr angenehme Zusammenarbeit, und es war toll, zu sehen, wie die beiden sich gefreut haben, wenn ihre Figuren einen weiteren Song in den Mund gelegt bekamen.
Wie sind Sie an das Werk herangegangen? Zuerst den Film geschaut und dann sprudelten schon die Melodien in Ihrem Kopf?
Den Film kannte ich zwar schon, aber ich habe ihn mir unzählige Male immer wieder angesehen. Es galt, herauszufinden, wo die Eckpunkte in der Geschichte sind, wo die großen Momente bei den Figuren stattfinden, da dies die Stellen für die Songs werden müssen. Danach galt es, zusätzliche Motivationen für Songs zu erfinden. Anschließend haben wir uns über musikalische Farben für die Charaktere verständigt. Erst dann ging das große Schreiben los. Der zu diesem Zeitpunkt längst geschriebene „Schoschonen“-Song war der musikalische Startpunkt der Reise. In dem Lied wird in der ersten Hälfte eine ernsthafte, cineastisch angelegte musikalische Westernwelt eröffnet, um diese dann urplötzlich zu brechen und das Lied in eine glitzernde Broadwaynummer zu verwandeln.
Dieses entschiedene Ja zu mutigen Brüchen und bewussten Stil-Zitaten ebnete dann den Weg zu „Grmpfzl“, einem großen Solo für einen sterbenden Indianer, dem die Kraft zum Singen ausgeht, oder einem „Lorenfahrt“-Filmscore-Song, der nahezu ausschließlich nur aus „Aaahs“ und „Ooohs“ besteht. Oder zu Uschis Song „Ich brauch ’nen Mann, der jodeln kann“ im ersten Akt.
Jeder erwartete bei einem Auftrittssong einer Barsängerin eine sexy Nummer im Stil von „Big Spender“ oder „Fever“. Wir ebnen im Intro exakt diesen Weg, um dann sprunghaft in einer Jodelnummer zu landen. Wir werden oft gefragt, wie wir auf’s Jodeln kamen. Das ist allerdings sehr einfach, denn im Wilden Westen wurde sehr viel gejodelt. Tatsächlich und ungelogen ist das Jodeln schlicht eine der wenigen authentischen Übereinstimmungen zwischen Bayern und dem Wilden Westen.
Am Opening für den zweiten Akt haben wir beispielsweise lange geschrieben, was schlicht daran liegt, dass die Geschichte an dieser Stelle eigentlich kein Futter für ein energetisches Uptempo liefert. Für die 25 Songs, die in der Show sind, haben wir letztendlich ca. 85 geschrieben. Einige bis zu 11-mal, andere haben sich, seitdem sie geschrieben wurden, gegen jede Bearbeitung von uns gesperrt und sind heute so auf der Bühne wie am ersten Tag. Wir haben mal wieder gemerkt, wie schwierig es ist, Songs zu erarbeiten, die leichtfüßig und scheinbar selbstverständlich daherkommen. Die dir wie ein bekannter Freund vorkommen, wenn du ihn hörst, und trotzdem eigenständig und originär sind.
Ihr Musical „Das Orangenmädchen“ hat aktuell großen Erfolg in Wien. Uraufgeführt wurde es jedoch schon 2004 in Trier. Wie kommt es, dass das Stück vier Jahre von der Bildfläche verschwunden war?
Die ursprüngliche Version war eine Auftragsarbeit für das Theater in Trier. Da sie dort einen Opernchor und ein großes Orchester zu beschäftigen haben und die Produktion auf der großen Bühne gezeigt werden sollte, wurden wir gebeten, diese äußeren Parameter zu berücksichtigen. Was herauskam, war ein Musical für vier Darsteller, 25 Musiker und 30 Chrorsänger. Das sind nicht gerade die idealen Voraussetzungen für ein Stück, um nachgespielt zu werden. Wir haben uns in den letzten Jahren immer vorgenommen, eine kleine und dem Stück dienliche Fassung zu erarbeiten. Wie es jedoch oft so ist, hat man später oft die Zeit nicht, sich dem Projekt zu widmen und schiebt die Bearbeitung immer wieder vor sich hin. Als Michael Konicek aus Wien dann auf uns zutrat und großes Interesse zeigte, mit diesem Musical das neue Wiener Off Theater zu eröffnen, war einfach kein Vorwand mehr gegeben, sich endlich hinzusetzen und die für uns „richtige“ Fassung zu erarbeiten. Die jetzige Produktion in Wien ist daher tatsächlich eine gänzlich neue Version des Musicals. Wir haben am Buch gearbeitet, die Chorszenen mussten umgearbeitet werden, wir haben die Songtexte überarbeitet und ein Arrangement für Klavier und Cello erstellt. Es ist daher eine richtige kleine Uraufführung gewesen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, aus dem Roman „Das Orangenmädchen“ ein Musical zu machen?
Ich las gerade das Buch und war begeistert von der Grundidee, dass ein Sohn zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters plötzlich einen Brief von ihm erhält, der ihm hilft, sich im Leben zurechtzufinden, und ihm vieles über seine Eltern erzählt. Zeitgleich bekam ich von Christian Gundlach, dem späteren Buchautoren des Musicals, den Anruf, ob ich „Das Orangenmädchen“ kennen würde. Ich habe laut gelacht und gedacht, dass das ja kein Zufall sein könne. Wir haben gemeinsam mit dem Hamburger Verlag Whale Songs sehr schnell die Rechte von Jostein Gaarder bekommen und konnten anfangen, am Stoff zu arbeiten. Dieses Musical liegt mir auch persönlich sehr am Herzen, da es kleine Parallelen zu meiner eigenen Geschichte gibt. Und nicht zuletzt ist es wunderbar, auf der Bühne Zeitlinien überschneiden zu lassen und dadurch eigentlich unmögliche Dialoge, die wir uns im Leben manchmal wünschen, zu ermöglichen. Für mich ist das, was im „Orangenmädchen“ erzählt wird, schlicht eine wichtige und wunderschöne Geschichte, die es verdient hat, erzählt zu werden. Ich bin sehr froh, dass wir sie erzählen dürfen, denn davon gibt es nicht allzu viele.
Im Oktober 2006 feierte Ihr Musical „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ seine Uraufführung, das erst kürzlich wieder auf Deutschlandtour war. War es schwierig, die Rechte zu bekommen, um das Buch von Walter Moers als Musical adaptieren zu dürfen? Schließlich gilt Moers als sehr öffentlichkeitsscheu.
In der Tat bin ich der Einzige aus dem „Blaubär“-Produktionsteam, der sich mit ihm persönlich getroffen hat – abgesehen von unserem fantastischen Puppenbauer Carsten Sommer, der allerdings ein langjähriger Freund von Walter Moers ist. Walter hat für sich entschieden, dass es ein unbezahlbares Glück für eine prominente Persönlichkeit wie ihn ist, immer noch unerkannt beim Bäcker in der Schlange stehen zu können. Und an diesem Glück hält er konsequent fest. Ich bewundere ihn sehr dafür. Walter war anfangs sehr skeptisch, dass dieser Roman überhaupt umsetzbar ist. Heiko Wohlgemuth und ich haben daraufhin ein paar Songs und einen groben Ablauf geschrieben. Ich habe das Material dann bei Walter zu Hause präsentiert und vorgelesen. Nach einem langen und sehr netten Abend war er dann nicht mehr abgeneigt. Es war ein großes Glück für Heiko und mich, dieses Projekt verwirklichen zu können, denn Walter Moers ist in meinen Augen der fantasievollste und ungewöhnlichste Geschichtenerzähler, den wir haben.
Für das Schmidt Theater und das Schmidts Tivoli in Hamburg haben Sie etliche Musicals komponiert. Dabei herausgekommen sind spaßige Shows wie „Villa Sonnenschein“, aber mit „Swinging St. Pauli“ auch ein durchaus dramatisches Stück. Was fällt Ihnen schwerer?
Beides ist gleichermaßen schwer, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Im übrigen haben sowohl „Villa Sonnenschein“ als auch „Swinging St. Pauli“ sehr heitere und sehr rührende Momente. Mir macht es großen Spaß, Comedysongs zu schreiben. Nach Fertigstellung eines eher komödiantischen Stückes fluche ich dann immer, wie schwer es ist, lustig und originell zu sein und freue mich dann auf eine eher ernstere Angelegenheit. Wenn ich dann in schicksalsschweren Songs versinke, freue ich mich dann auf der anderen Seite wieder sehr darauf, leichtfüßig und lustig sein zu können. Zu meinem großen Glück ist es mir möglich, so unterschiedlich arbeiten zu können und nicht fest in einer Schublade zu stecken.
Im Schmidts Tivoli in Hamburg läuft ihr Musical „Heiße Ecke“ seit mehr als fünf Jahren. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
„Heiße Ecke“ ist ein Phänomen. Und diese sind ja bekanntlich immer schwer zu ergründen. Es ist müßig, nach einem Grund zu suchen, warum das eine Stück ein Hit wird und das andere nicht. Wenn es erfolgreich ist, gibt es immer viele Dinge, die dafür sprechen. Wenn es ein Flop ist, findet man ebenso viele Gründe, warum das Musical niemand sehen will. Wäre „Heiße Ecke“ beispielsweise kein Erfolg gewesen, hätte ich vielleicht gesagt, dass wir leider keine wirkliche Hauptfigur haben, da sich in dem Musical neun Darsteller über 50 Rollen teilen. Oder dass die strenge Erzählstruktur, nämlich fünf Minuten aus jeder Stunde eines Tages an einem Würstchenstand zu zeigen, vielleicht uninteressant und zu konstruiert ist. Den Erfolg kann man vielleicht auf der anderen Seite damit erklären, dass alle Figuren interessant und liebenswert geworden sind und dass man all die vielen kleinen Geschichten gern sieht und verfolgt. Oder dass genau diese Erzählstruktur ungewöhnlich und originär ist. Wie auch immer – im Tivoli allein wurden bislang weit über 1.000 Vorstellungen gespielt und ein Ende ist nicht abzusehen. Das ist fantastisch.
Welche Projekte stehen für Sie als nächstes an?
Ich komponiere gerade mit meinem Freund Ingmar Süberkrüb die Musik zum Pro7-Film „Mia und der Millionär“ mit Felicitas Woll. Dann steht eine große AIDA-Schiffstaufe ins Haus, und außerdem stehen unterschiedliche, sehr interessante Musicalprojekte in den Startlöchern. Die CD vom „Schuh des Manitu“ haben wir kürzlich aufgenommen, die nun gemischt und fertig gestellt wird. Von „Swinging St. Pauli“ und „Blaubär“ werden gerade englische Übersetzungen erarbeitet. Also glücklicherweise darf ich auch weiterhin an sehr unterschiedlichen Projekten teilhaben.