Wie die Oper Halle mit “The Scarlet Pimpernel” das junge Publikum nicht nur gewinnt, sondern auch hält.

Die Vorstellung im Opernhaus ist vorbei, das hauseigene Operncafé ist mit rund 150 Gästen gut gefüllt. Doch wer ältere Herrschaften in Abendgarderobe erwartet, der liegt daneben: An den Seiten des Saals drängen sich Teenager in legerer Kleidung, an den Tischen sitzen Mütter, Onkels und Omas mit teilweise immer noch leicht verwirrtem Blick: Ist es wirklich wahr, dass uns der Nachwuchs überredet hat, ins Theater zu gehen?
Nein, bei “The Scarlet Pimpernel” in der Oper Halle ist vieles nicht normal. Es ist gar nicht unbedingt die Tatsache, dass sich die Oper die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung eines Musicals des dank “This is the moment” berühmten Komponisten Frank Wildhorn gesichert haben – dessen Marktwert war nach den diversen kommerziellen Jekyll-Flops sowieso eher gering, zumal Scarlet sicher nicht sein stärkstes Stück ist. Was in Halle wirklich besonders ist, ist nicht die Produktion selber (die ist eher solide), als vielmehr die Art und Weise, wie die Hallenser daraus ein Theater-Event gemacht haben, dass ganz neue Publikumsschichten ins Theater zieht.

20 Minuten sind seit der letzten Show in dieser Saison vergangen. Gut 10.000 Zuschauer haben die 19 bisherigen Vorstellungen gesehen. “Wie oft warst du in der Show?”, fragt der Moderator auf der improvisierten Bühne im Operncafé. “Zwölf Mal”, erklärt ein junges Mädchen, sie mag vielleicht 13 sein, dann nimmt sie sich ein Textblatt und singt zum Halbplayback einen der Songs aus der Show. Die Zuhörer klatschen begeistert. Es herrscht Abtanzball-Atmosphäre: An den Tischen sitzen die Mütter, Väter, Tanten und Omas, an den Seiten stecken die Teenies verstohlen die Köpfe zusammen. “Macht doch mal mehr Licht an, man sieht ja kaum etwas”, ruft der Moderator.
Als nach und nach die Darsteller eintreffen, werden Autogrammblöcke, CDs und Digitalkameras gezückt, man plaudert aufgeregt mit den Stars. Natürlich wollen sie nächste Woche wiederkommen, wenn Christopher Murray erstmals in “Jesus Christ Superstar” auf der Bühne steht.

Die Kundenbindung funktioniert. Auch bei der “Buddy-Holly-Story”, eigentlich als Kontrastprogramm für die ältere Zielgruppe geplant, ist das Publikum überraschend jung – obwohl hier keine bekannten Namen auf der Besetzungsliste stehen. “Die Hauptdarsteller werden ständig auf der Straße angesprochen”, erzählt Pressesprecherin Iris Kruse. Veranstaltungen wie die Karaoke-Party nach der Show machen die Oper beim Nachwuchs plötzlich wieder “in”.
Auch die Öffentlichkeitsarbeit hat dazu beigetragen. Die Oper inserierte in Musicalzeitschriften, suchte den Kontakt zu Internet-Magazinen. So holt man das Fanpublikum ins städtische Haus. Da ist es dann ganz normal, wenn in der Schlange an der Garderobe zwei junge Mädchen darüber diskutieren, wie die Fotos von der TdV-Dernière geworden sind oder Oma die Tüte mit den Teddybären trägt, die die Enkelin später ihrem Star schenken will.

Die Geschichte dieser Produktion begann schon 1999, kurz nach der Bremer “Jekyll&Hyde”-Premiere. Frank Wildhorn wollte auch sein Frühwerk “The Scarlet Pimpernel” in Deutschland als Ensuite-Produktion gespielt sehen und fragte bei seinem Europa-Beauftragten Koen Schoots an, was sich da denn machen ließe. Der war skeptisch: Die Zeiten hätten sich geändert, an einen derart unbekannten Stoff würde sich kein Veranstalter heranwagen – “aber eine Stadttheater-Produktion könnte ich wohl rausschlagen”, erinnert sich Schoots an das Telefonat.
Über eine Freundschaft zum Intendanten kam der Kontakt nach Halle zustanden, dort war man gleich Feuer und Flamme. “Die anderen haben das einfach vertrieft”, freut sich Dramaturg Volker Weise noch heute über die schlafende Konkurrenz.

In Sachen Musical hat das Hallenser Theater durchaus Tradition. In den 70ern brachte man hier das ungarische Stück “Der Hund, der Herr Bozzi hieß” zur deutschen Erstaufführung – im dritten Anlauf, nachdem die SED-Bezirksleitung zwei Mal abgelehnt hat, weil sie die Annäherung zweier Systeme thematisiert sah. “Das war kein dolles Stück, und die ideologischen Befürchtungen waren auch Quatsch – aber wir haben es geschafft, das war wichtig”, erinnert sich Weise.
Bis Mitte der 80er Jahre hatte das Haus ein eigenes Musical-Ensemble, und auch die einzigen beiden Musical-Arbeitstage des “Verbandes der Theaterschaffenden” fanden zu DDR-Zeiten in Halle statt. Doch damals war Musical noch nah bei der Operette, mit Scarlet kam jetzt ein modernes Pop-Musical. “Ein bisschen bundesweite Ausstrahlung war da schon geplant”, sagt Weise. “Wir wollen uns damit profilieren.”

Von 340.000 auf 240.000 sei die Einwohnerzahl in Halle seit Beginn der 90er Jahre dramatisch gefallen, die Besucherzahl der Oper aber blieb konstant bei rund 100.000 pro Jahr. “Daran hat Musical natürlich einen erheblichen Anteil.”
“Man darf nicht den Fehler machen, den Jugendkult für das wichtigste zu halten”, sagt Christopher Murray – ausgerechnet der, der durch seine offene und kumpelhafte Art bei den jugendlichen Fans am besten ankommt. “Wir müssen unser Publikum kennen, unsere Stücke an das Publikum adressieren – das darf niemals nur Selbstbefriedigung sein.”
Das Publikum merkt, dass es ernst genommen wird. Und so finden auch zwei ältere Damen in Reihe acht, die der Pop-Musik anfangs sichtlich skeptisch gegenüber stehen, es schließlich völlig in Ordnung, wenn ein Mädel zwei Reihen weiter vorne während der Vorstellung fotografieren möchte. Und es stört sie schließlich auch nicht mehr, dass kaum einer der jungen Besucher die obligatorische Opern-Abendgarderobe trägt. Die Zeiten haben sich geändert, die Jugend soll mal machen – was ist da schon normal.

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