Ein Boom, aber kein Trend

Das Broadway-Jahr 2005: Dauerbrenner oder Newcomer, klassisch oder modern, Buchmusical oder Compilationshow, Jazz, Gospel oder Oper – alles offenbar keine Kriterien für Erfolg oder Misserfolg.

Ein Musical über die “Wonderful Town” New York? Schließt mit Verlust. Ein Klassiker? “Sweet Charity” kommt trotz einer tapfer kämpfenden Christina Applegate nicht in die Gewinnzone. Sondheim? “Pacific Overtures” geht relativ unbeachtet im Studio 54 unter, sein “Sweeney Todd” wird dagegen zum Jahresende von Fachpublikum und Presse in einer spannenden, neuartigen Inszenierung gefeiert. Irgendwie war es im Jahr 2005 am Broadway wie immer: Erfolge oder Misserfolge vorherzusagen ist einfach unmöglich.

2005 wird als das Jahr des Broadway-Rückzugs von Joop van den Ende in Erinnerung bleiben. Sein “42nd Street”-Revival erreicht trotz einem 130-Millionen-Dollar-Umsatz nicht die Einspielung der 13,5 Millionen Dollar Produktionskosten und wird im Januar geschlossen. Das von ihm produzierte Wildhorn-Musical “Dracula” wird ein Totalverlust. Nur die letzte Show, in der noch Geld von Joop van den Ende steckt, entwickelt sich Ende des Jahres zu einem Publikumserfolg: “The Jersey Boys”, die Geschichte der “4 Seasons” um ihren Sänger Frankie Valli, ist ein gradliniges Compilationmusical – die Geschichte der Band, ohne Spielereien erzählt.

Spielereien, wie sie beispielsweise bei “Lennon” (neun Personen sind John Lennon), dem Beach-Boys-Musical “Good Vibrations” (Herzschmerz am Surfstrand) oder dem Elvis-Stück “All Shook Up” (Shakespeare in die 50er verlegt) vom Publikum nicht angenommen werden. Alle Shows verlieren ihr Investment. Auch das einzige reine Tanzmusical, “Moving Out” (mit Billy-Joel-Songs) verlässt Ende 2005 den Broadway, allerdings nach Erreichen eines satten Profits. Choreographin Twyla Tharp plant bereits den nächsten Streich: “The Times Are A Changing” mit Songs von Bob Dylan – Tryouts finden ab Januar in San Diego statt.

Neben alten Meistern des Popbereichs meldet sich ein Altmeister des Musicals mit neuen Stücken zurück. Andrew Lloyd-Webber muss Anfang des Jahres mit der von ihm produzierten “Bombay Dreams” eine Niederlage einstecken, die er zum Ende des Jahres mit “Woman in White” vergessen machen will. Doch auch hier scheint das Publikum nicht mitzuspielen: Die Auslastungen bewegen sich schon nach zwei Monaten bei knapp 70 Prozent.

Zahlen, die der erfolgreichste Neustart 2005 weit hinter sich lässt: “Spamalot” von Monty Python, liebevoll aus deren Film “Die Ritter der Kokosnuss” herausvermusicalt, startet im März, räumt im Juni den Tony für das beste neue Musical ab und schafft es zum Ende des Jahres sogar, dem absoluten Publikumsliebling “Wicked” bei den Kassenumsätzen nahe zu kommen. Ebenfalls ein Tony-Gewinner ist “Light in the Piazza”, die fast opernhaft angehauchte Liebesgeschichte einer jungen Amerikanerin mit einem Italiener, die während des Italien-Urlaubs entsteht. Das Stück ist im Vivian Beaumont Theater ein Überraschungserfolg und wird verlängert und verlängert (aktuell bis Juli 2006).

Völlig aus dem Nichts tauchte das William Finn-Musical “The 25th Annual Putnam County Spelling Bee” auf. Das Konzept, das auf einer Buchstabiershow beruht, bei der Kinder von Erwachsenen gespielt werden, katapultierte sich von einer Garagenshow über Off-Off-Broadway auf die Off-Broadway-Bühne der Second Stage in Manhattan, erlebte dort eine erfolgreiche Spielzeit und wird von “Wicked”-Produzent David Stone für das Schwestertheater des Gershwin, das Circle in the Square gebucht. Dort erlebte das Stück im Mai seine Broadwaypremiere, und im Juni folgen die Tony-Awards für das Beste Buch und den besten Nebendarsteller. Das Tony-Wunder 2005!

Zwar nicht so erfolgreich bei den Tonys, aber nach geschickten Marketingaktionen wie dem Verteilen von 50.000 kostenlosen CDs wird David Yazbeks Musical “Dirty Rotten Scoundrels” vom Publikum angenommen. Vor allem die Hauptdarsteller Norbert Leo Butz, John Lithgow und Sherie Rene Scott begeistern die Zuschauer.

Weniger Erfolg hat das eher altmodische Musical “Little Women”, dem trotz eines Stars (Sutton Foster) die Bindung an das 21. Jahrhundert zu fehlen scheint. Allerdings erlebten die Macher von “Brooklyn” und “In My Life”, dass ein allzu modernes Konzept vom Publikum ebenfalls abgelehnt werden kann.

Kaum Ermüdungserscheinungen zeigen die Long-Runs, also die Shows, die seit mehr als zwei Jahren gespielt werden. “Wicked” erlebt trotz des Abgangs von Idina Menzel zu Beginn des Jahres keinerlei Schwäche in der 100-prozentigen Auslastung, sogar mit unbekannten Darstellern wird über das Jahr mehr und mehr Umsatz erwirtschaftet.
Die Attraktivität von “Avenue Q”, dem Tony-Überraschungsgewinner 2004, flacht in New York zwar ein wenig ab, doch bereiten sich die Produzenten nach der Eröffnung in Las Vegas auf eine erste Produktion in London 2006 vor. Das Revival des “Fiddler on the Roof” wird Anfang 2006 das Minskoff Theater verlassen, um Platz für einen prominenten Nachmieter zu machen: “Der König der Löwen” zieht vom New Amsterdam Theatre um, damit dort “Mary Poppins” aus London einfliegen kann. “König der Löwen” und “Mamma Mia!” sind weiterhin Dauerbrenner, das “Phantom” spielt im 18. Jahr an den Kassen so viel Geld ein, wie wohl noch nie zuvor, und “Die Schöne und das Biest” erwirtschaftet weiterhin, wenn auch bescheidenere, Gewinne im Lunt-Fontanne Theater.

Von den Film-Musicals bringt “Rent” der Bühnenproduktionen eine satte Zuschauersteigerung, doch lassen die Umsätze des Films darauf schließen, dass er nicht den gleichen Erfolg wie “Chicago” haben wird. Leider deuten die zurückhaltenden Kritikerreaktionen dies auch für die Susan-Stroman-Verfilmung von “The Producers” an. Dabei würden die Show, ebenso wie das bald verfilmte “Hairspray” einen Werbe-Schub gut vertragen können, da beide Shows im Alltagsgeschäft immer geringere Auslastungszahlen vermelden.

“The Color Purple” scheint sich wie seine Titelheldin Celie von einem hässlichen Entlein zu einem hübschen Schwan zu entwickeln. Mit dem Hinzukommen der in Amerika populären Showmasterin Oprah Winfrey als Produzentin, die bereits in der Steven-Spielberg-Verfilmung von 1985 mitwirkte, einer grundlegenden Überarbeitung der Musik und der Verpflichtung von herausragenden Hauptdarstellern erlebt die Show einen Aufschwung. Premiere war am 1. Dezember 2005. Die Kritiken waren überwiegend positiv, zum Ende des Monats liegt der Umsatz pro Woche bei knapp einer Million Dollar.

Der Broadway erlebt seit sechs Jahren einen Boom, und doch lässt sich kein genereller Trend ablesen. Broadway 2005, das heißt Oper (“Light in The Piazza”) neben großer Spaßshow (“Spamalot”), Jazzshow (“Dirty Rotten Scoundrels”) neben Kabarett (“25th Annual…”), Gospelmusical (“The Color Purple”) neben Compilationshow (“Jersey Boys”) und fast klassischer Musicaloperette (“The Woman In White”). Vorhersagen für 2006? Kaum möglich. Tendenz: abwechslungsreich.

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