© Björn Hickmann, Stage Picture
© Björn Hickmann, Stage Picture

Next to normal - Fast normal (2016)
Theater, Dortmund

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Was ist eigentlich normal und ist Normalität erstrebenswert? Reicht es nicht aus, “fast normal” zu sein, wenn man ansonsten glücklich ist? Und überhaupt: Was ist eigentlich Glück? “Die meisten Menschen, die denken, sie seien glücklich, sind einfach nur dumm”, sagt Maya Hakvoort in ihrer Rolle als Diana Goodman mit ziemlicher Überzeugung. Im Theatersaal ist es derweil so leise, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. “Fast normal” geht in der Dortmunder Inszenierung von Stefan Huber unter die Haut, durchbricht nicht nur inhaltlich, sondern auch konzeptionell Klischees – und tut dem allzu oft als “seichte Unterhaltung” abgeschriebenem Genre alleine deshalb schon gut.

Beim Betreten des Theatersaals fällt der Blick der Besucher gleich auf das stark nach vorne gerückte Bühnenbild von Timo Dentler und Okarina Peter: Der zweigeschossige Bühnenaufbau gibt Einblick in diverse Zimmer des Hauses der Familie Goodman. Weit im Vordergrund und über den Orchestergraben hinausragend befinden sich Wohnzimmer und Küche. Etwas weiter hinten führen Treppen ins Obergeschoss und damit ins Zimmer der Tochter Natalie. Der obere Bereich fungiert ebenfalls als Schauplatz der meisten Szenen, die sich nicht im Hause Goodman abspielen, z.B. Natalies Ausflüge in Schule und Clubs. Zumindest der hintere Teil des Bühnenbildes ist nicht statisch und kann bei Bedarf seitlich hinein- und hinausgefahren sowie nach oben und unten bewegt werden. Die sechsköpfige Band, bestehend aus Gitarre, Bass, Schlagzeug, Violine, Vioncello und Keyboard, hat auf Bühnenhöhe hinter dem Wohnbereich der Familie Platz gefunden und ist somit ständig im Blickfeld der Zuschauer – theoretisch zumindest, denn die Aufmerksamkeit des Publikums ist fast immer gefangen genommen von dem packenden Geschehen weiter vorne auf der Bühne.

Und das hat es in sich. Im Mittelpunkt der Handlung des Kammermusicals stehen die Goodmans, die zunächst in jeder Hinsicht dem Stereotyp einer typischen amerikanischen Familie entsprechen: Vater Dan verdient die Brötchen und ist bereits mit wenig zufrieden: Hauptsache, der Sex mit Ehefrau Diana ist gut, auf der Arbeit läuft’s und Töchterchen Natalie macht keine Probleme. Die 16-Jährige ist musikalisch hochbegabt, in der Schule ambitioniert und schämt sich wie alle Heranwachsenden für ihre Eltern. Mutter Diana kümmert sich unterdessen um Heim und Herd sowie um Sohn Gabe, der einen besonderen Platz in ihrem Herzen innehat. Alles ganz normal – jedenfalls auf den ersten Blick. Doch Diana leidet seit Jahren an einer bipolaren Persönlichkeitsstörung, die einst durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst wurde und die sowohl ihr Leben als auch das ihrer Familie immer wieder auf den Kopf stellt. Während die Fassade der gutbürgerlichen Familie zusehends bröckelt, erhält das Publikum einen immer tieferen Einblick in die komplexe Gefühlswelt der Charaktere und in deren unterschiedliche Art, mit Dianas Krankheit umzugehen.

Durch die Reduktion des Bühnenbildes auf wesentliche Elemente ist sichergestellt, dass die Aufmerksamkeit des Publikums stets auf die Charaktere und deren intrinsischen Konflikte gerichtet ist. Dadurch entsteht eine gewisse Unmittelbarkeit, die den Zuschauer das Geschehen auf der Bühne noch intensiver und emotionaler erleben lässt. In diesem Zusammenhang drängt sich geradezu der vielzitierte Satz aus der New York Times auf: “Fast normal” ist in der Tat ein “feel-everything-musical” und zwingt den Zuschauer geradezu, eigene Gefühle und Gedanken zu ergründen, zu hinterfragen und sich eine Meinung zu bilden. Denn obwohl das Stück Dianas Krankheit in all ihren Facetten abbildet und ebenso deutlich die Auswirkungen auf ihre Bezugspersonen darstellt, werden keine Wertungen vorgenommen oder gar die moralische Keule geschwungen.

Wie bereits bei vergangenen Produktionen hat das Theater Dortmund ganze Arbeit geleistet und hervorragende Casting-Entscheidungen getroffen. Leading Lady Maya Hakvoort zeigt sich als Diana Goodman sowohl gesanglich als auch darstellerisch den hohen Anforderungen der Rolle mehr als gewachsen. Während ihre Diana zunächst sehr ironisch mit dem erneuten Ausbruch der Krankheit umgeht, betont Hakvoort im weiteren Handlungsverlauf vor allem die Resignation und Verzweiflung ihrer Figur im Angesicht der vielen, ihr in keinster Weise helfenden Behandlungsmethoden der Schulmedizin (“Das ist doch wie im Kino”). Gleichzeitig lässt sie jedoch keine Zweifel an Dianas Stärke aufkommen. Ihr finales Solo “Ich werde dich verlassen” ist daher kein Eingeständnis von Schwäche, sondern Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins und ihrer Weigerung, sich einfach geschlagen zu geben.

Hakvoorts facettenreiches Spiel wirkt nie aufgesetzt oder überspitzt, sondern durchgehend realistisch. Diese Authentizität bewirkt eine hohe Identifikation mit Diana und ermöglicht überhaupt erst die Unmittelbarkeit des Erlebens. Mit viel Power und Ausdruck in der Stimme singt sich Hakvoort durch Tom Kitts rockige Partitur. Neben “Das ist doch wie im Kino” bleiben vor allem “Wer spinnt hier?/Mein Arzt, die Psychopharmaka und ich” und “Was weißt du?” im Gedächtnis. Aber auch die Ballade “Mir fehl’n die Berge”, die weitere Einblicke in Dianas Seelenleben gibt, weiß zu gefallen.

An Hakvoorts Seite spielt Rob Fowler einen sehr präsenten Dan, der anfangs betont unbekümmert mit einer “Alles wird gut”-Mentalität mit den psychischen Problemen seiner Frau umgeht – ein Anruf beim Arzt wird es schon richten. Doch Fowlers differenzierte Darstellung lässt den Zuschauer rasch erahnen, dass auch Dan emotional betroffener ist, als er zugeben mag und das Verdrängen nur seine Art ist, mit den traumatisierenden Ereignissen der Vergangenheit und ihren Folgen in der Gegenwart umzugehen. Er möchte einfach nur das Bild der heilen Familie aufrechterhalten. Erst, als Dan am Ende erkennt, dass auch er loslassen und sich mit seinen Problemem auseinandersetzen muss, eröffnet sich ihm ein positiver Ausblick in die Zukunft. Auch gesanglich passt Fowler perfekt ins Rollenprofil. Neben der emotionsgeladenen Reprise von „Kein Mensch” (Duett Fowler/Huth) am Ende des zweiten Akts berührt vor allem das Finale des ersten Akts, nämlich „Ein Licht in der Nacht” (Duett Fowler/Hakvoort).

In der Doppelrolle des Dr. Fine/Dr. Madden kann Jörg Neubauer überzeugen. Als faktenaffiner Dr. Fine kommt er sehr nüchtern, ja fast schon klinisch, daher. Seine gekonnten Rockstar-Ausbrüche als Dr. Madden sorgen für große Heiterkeit und viel benötigtes Comic Relief – gerade weil auch diese Figur ansonsten eher sachlich angelegt ist. Im Schlüsselsong “Fass den Entschluss”, den Neubauer mit großer Eindringlichkeit vorträgt, kann er jedoch auch die menschlichere Seite des Arztes zeigen und so deutlich machen, dass dieser ebenfalls nicht von Dianas Schicksal unberührt bleibt.

Eva Rades liefert als Natalie eine durchweg starke Performance ab. Darstellerisch stellt sie die Zerissenheit Natalies im Spannungsfeld zwischen den eigenen Erwartungen und denen ihres Umfeldes hervorragend dar. Ausgesprochen unter die Haut gehend: Ihre rockig und dennoch einfühlsam interpretierte Ballade “Superboy und seine Schwester aus Glas”. Dustin Smailes gibt ihren etwas alternativ angehauchten, optimistischen und trotz aller Hindernisse unbeirrbar an Natalies Seite stehenden Freund Henry. Rades und Smailes harmonieren als Paar auf der Bühne ebenso gut wie Hakvoort und Fowler. Ihre beiden Duette “Hey” und “Richtig für dich” kommen gut an.

Johannes Huth komplettiert die Cast und besticht vor allem durch seine große Bühnenpräsenz. Gesanglich stark sowohl in den lauten, rockigen Nummern (“Ich lebe”, “Schock danach”) als auch in den leisen, langsamen Passagen (“Komm mit mir”), entwickelt sich sein Gabe schleichend vom eher unauffälligen Durchschnittsteenager (“Wie an jedem Tag”) zum alles dominierenden Charakter. Der Spagat zwischen tragischer und diabolischer Figur gelingt Huth dabei ausgesprochen gut und wird zudem durch Lichttechnik und Kostüme unterstützt. Trägt Gabe zu Beginn noch relativ normale Teenager-Kleidung, so ist er, je weiter die Handlung voranschreitet, in immer blassere Töne gekleidet bis er schließlich nur noch weiß trägt – eine gleichermaßen surreale wie charismatische Erscheinung.

Musikalisch beeindrucken vor allem die mehrstimmigen Stücke, bei denen die Cast einmal mehr unter Beweis stellen kann, dass sie als Ganzes hervorragend funktioniert. Die Musik ist abwechslungsreich und bringt verschiedenste Einflüsse unter einen Hut. Die sechsköpfige Band unter der Leitung von Kai Tietje spielt die rockigen Arrangements mit sicherer Präzision und viel Schwung. Oftmals erscheint die Band aber zu dominant, so dass einige Textpassagen der Darsteller trotz klarer Artikulation schwer zu verstehen sind. Neben einer noch nicht ganz optimalen Abmischung mag auch die ungewöhnliche Position der Musiker weit hinten auf der Bühne dafür verantwortlich sein.

Susanne Hubrich lässt die Cast alltägliche Kleidung tragen, so dass niemand verkleidet wirkt. Auch dadurch wird deutlich, dass es sich bei den Goodmans um eine normale, austauschbare Alltagsfamilie handelt. Nur Mutter Diana darf ab und zu extravaganter auftreten und ist stets in Rottöne gekleidet.

Danny Costellos Choreographien passen gut und erreichen mit minimalen Einsatz maximale Wirkung. Die Lichttechnik (Florian Franzen) wird ebenfalls dezent und zielführend eingesetzt: Mal ein heller Spot hier, mal ein heller Spot da, öfter blaues Licht, das den hinteren Teil der Bühne optisch gekonnt ausblendet und so die Aufmerksamkeit geschickt auf die dramatischen Geschehnisse weiter vorne lenkt. Stroboskop-Licht sorgt für die richtige Atmosphäre bei Dianas Elektrokrampftherapie. Zum Schluss, beim Sextett “Licht” dann sechs helle Spots von hinten und gleißend weißes Licht von unten. Die Symbolik ist eindeutig: Die Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut werden kann, beendet die Achterbahnfahrt der Gefühle.

Kaum ist der letzte Ton verklungen und das Licht im Saal erloschen, hält es das Premierenpublikum nicht mehr auf seinen Sitzen. Tosender Applaus und schließlich lautes Jubeln und “Bravo”-Rufe durchbrechen die Stille und zeigen deutlich, dass “Fast normal” begeistert hat. Auch den Gesprächen während der anschließenden Premierenfeier ist zu entnehmen, dass das Stück Fragen aufgeworfen hat, die noch lange nachhallen werden. Das Regiekonzept von Stefan Huber, die maximale Fixierung auf die Handlungsebene bei gleichzeitiger Reduktion potentieller Störfaktoren, funktioniert: Die Dortmunder Inszenierung kommt eine Spur rauer daher als einige Vorgängerversionen, löst intensive Emotionen aus und schärft beim Publikum das Bewusstsein dafür, dass Musical weit mehr ist als eingängige Melodien zu seichten Texten und Themen. Ein unter die Haut gehendes Theatererlebnis, welches sich nicht nur mit Ethik in der Medizin beschäftigt, sondern auch mit unserem Verständnis von Normalität und unserem Umgang mit einer Krankheit, die wirklich jeden von uns treffen kann. Uneingeschränkt empfehlenswert.

 
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KREATIVTEAM
Deutsche TexteTitus Hoffmann
Musikalische LeitungKai Tietje
RegieStefan Huber
BühneTimo Dentler
Okarina Peter
KostümeSusanne Hubrich
ChoreografieDanny Costello
DramaturgieWiebke Hetmanek
 
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CAST (AKTUELL)
DianaMaya Hakvoort
DanRob Fowler
GabeJohannes Huth
NatalieEve Rades
HenryDustin Smailes
Dr. Fine / Dr. MaddenJörg Neubauer
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 05.03.2016 19:30Theater, DortmundPremiere
Fr, 11.03.2016 19:30Theater, Dortmund
Do, 17.03.2016 19:30Theater, Dortmund
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